"Der schwarze Griefler"
Eine Geschichte aus der Welt Ädras - von Terralux
Wind peitschte in Terstions Gesicht. Über ihm knatterte die Fahne der unseligen Piraten, auf deren Schiff er mitfuhr. Er hatte der Mannschaft lieber nicht erklärt, dass die goldene Kralle auf rotem Grund kaum als Piratenfahne taugte, war sie doch eher ein Symbol der Phabanischen Armee Oder genau das mochte ein Grund für die Wahl sein. Die Segel über ihm blähten sich und verschafften den Ruderern der Bireme eine Pause.
"Nur noch bis zum nächsten Hafen, dann können wir den Sklaven endlich seinem Herrn zurück bringen ," murmelte er, "ein viertes Mal wird uns dieser verdammte Nämathier nicht entkommen. Dann können wir uns endlich ein anderes Ziel suchen und brauchen seinen Hufen nicht mehr folgen, Amica."
Seine Gefährtin reckte den scharfen Schnabel in den Wind und genoss die Aussicht. Sie war ein Griefler, eine Mischung aus Vogel und Hund, ausgestattet mit einem Schnabel, großen Ohren, einem kräftigen Hundekörper und einer unerschütterlichen Treue, zumindest was sie betraf.
"Ja, ich weiß, dieser verdammte Nämathier ist uns zu oft entwischt, aber wo soll er hier auf See hin?" Amica antwortete nur mit einem langgetreckten Gähnen und nahm die Vorderbeine von der Reling. Dann drückte sie ihren Kopf mit einem vertrauensvoll an Terstions Hand.
"Natürlich hast du Recht. Wir beiden werden diesen Auftrag erledigen und haben dann endlich wieder unsere Ruhe." Der Phabaner wandte sich um und seine Krallen bohrten sich in die Planken des Schiffes, als der Wind in die Federn seiner Schwingen griff und ihn fast nach hinten schob. Er zog die großen Federflügel an sich, als er zu den Piraten sah. Sudlinger, Nörrd, Menschen, Zwerge, Nämathier und sogar Phabaner wie er waren dabei, aber allesamt besaßen sie das Rückgrad und die Disziplin einer Nacktschnecke. Dafür verbreiteten sie den Gestank eines vergammelten Fischberges und die Ruhe eines Sacks voller Flöhe. Gut, Letzteres mochte mit den aktuellen Ereignissen zusammenhängen, musste Terstion zugeben. Er bückte sich zu Amica und seine Hände gruben sich spielerisch wuschelnd in ihr Halsfell.
"Keine Sorge, bald haben wir es geschafft." Amica genoss diese Behandlung sichtlich, doch dann stellte sich ein Ohr auf. Ein Knurren entwich ihrer Kehle und sie stellte sich angriffslustig in Richtung der Luke auf.
"Schon wieder?", fragte Terstion beunruhigt. "Wehe es hat unseren Sklaven erwischt. War schwer genug, Ardano wieder einzufangen."
Sofort heftete sich Amica dicht an seine Seite und beobachtete aufmerksam die Personen um sie herum. Das Getuschel durchdrang wie eine Nebelbank alle Ritzen des Schiffes und es war kaum notwendig, selbst nachzusehen. Ein Pirat war das Opfer. Schon wieder. Terstion wollte dennoch Gewissheit. Er stieg in hinab in den unteren Bereich der Bireme. Vorbei an den unbesetzten Ruderbänken folgte er den Strom der Piraten, die kamen und gingen. Ein Peitschenknallen durchschnitt die Luft und ließ die Besatzung nach und nach verstummen. Einige wichen zurück, als sich ein kräftiger Phabaner mit sandgelben Schwingen Platz verschaffte.
"Haltets Maul!", brüllte er. "Es hat Lucullus erwischt. Wir werden die nächste Bucht anlaufen und das Schiff komplett durchsuchen, um auch die letzten Winkel zu durchsuchen! Was auch immer das für ein Mörder ist, er wird diesen Tag nicht überleben!"
Die Worte dröhnten durch das Schiff und lockerten den Nebel der Gerüchte etwas auf, doch da schon zwei weitere Piraten ihr Leben mit tiefen Wunden verloren hatten, kam einigen Piraten dieser Schritt einfach zu spät. Sie murrten und verzogen sich erst, als der Phabaner erneut die Peitsche knallen ließ und die aufdringliche Mannschaft zurück scheuchte. Terstion wusste, dass eine Meuterei weit näher lag, als es dem Kapitän lieb sein konnte.
Es war unnötig die Leiche zu sehen. Der Phabaner wusste schon genug durch die ersten Vorfälle. Tiefe Wunden, wahrscheinlich ausgeweideter Bauch, die Kehle durchtrennt wie von einem scharfen Schnabel und eine aufgerissene Geldbörse. Das Blut in Striemen über den Körper verteilt und niemand hat wirklich etwas gesehen, zumindest nicht mehr als einen Schatten. Im Vorbeigehen warf ein fieser Pirat einen hasserfüllten Blick auf Amica. Ein anderer flüsterte halblaut und deutete auf seine Grieflerin.
"Wir sollten uns möglichst bald absetzen", raunte Terstion Amica zu. " Wir sind wohl nicht mehr lang sicher hier."
Beunruhigt kraulte er ihren Kopf. "Am besten verabschieden wir uns, wenn wir in der Bucht sind. Ich hoffe, Ardano macht keine Probleme. Zu oft haben wir seinen Pferdearsch von hinten gesehen." Amica drückte ihren Kopf zutraulich an seine Hand und Terstion gewann neue Zuversicht.
Das Schiff drehte ab und die Ruderer übernahmen die Fahrt. Geschickt wurde es am Ufer entlang manövriert, bis eine weit ausladende Bucht sichtbar wurde. Mit geübten Griffen wurde die Bireme an einen verwitterten Steg festgemacht. Auch die Hütte am Strand machte einen verlassenen Eindruck.
"Wehe du haust ab", grummelte Terstion zu Ardano. Er saß auf dem Rücken des großen Zentauren, der gehorsam über den Steg trottete.
"Aber ich doch nicht", erwiderte dieser mit gespielter Empörung. Terstion glaubt ihm kein Wort. Er machte ihn zusammen mit den anderen gefangenen Sklaven an den Brettern der Fischerhütte fest. Amicas Rückenfell sträubte sich immer wieder, wenn die Piraten ihr nahe kamen. Ihr Kopf ruckte herum und sie hielt nervös Ausschau. Terstion kniete sich zu ihr und legte sachte eine Hand auf ihren Rücken.
"Was ist?", fragte er besorgt. Amica fixierte eine Stelle etwas weiter auf Land. Ein tiefes, gefährliches Knurren entkam ihrer Brust. Da entdeckte Terstion das Wesen. Im schwachen Licht der Dämmerung schlich ein Griefler, schwarz wie die Nacht, auf sie zu. Vorsichtig zog Terstion seinen Gladius. Der schwarze Griefler duckte sich. Er lauerte und schlich näher. Terstion war wie gebannt von diesem Wesen. Amicas Kehle entkam ein Grollen und Terstion begriff, nicht er war das Ziel des Schwarzen! Stattdessen war dort ein Mensch, der eine schwere Kiste schleppte und zu den anderen stellen wollte. Terstion bekam keine Warnung über die Lippen, als der schwarze Griefler lautlos auf den Mann sprang. Der Schnabel drang in die Kehle, die mit einem einzigen Reißen des Schnabels aufriss. Gurgelnd brach der Mann zusammen und die Krallen des Grieflers gruben sich tief in seine Eingeweide. Sie mussten schärfer als bei normalen Grieflern sein. Die Kleidung bot ihnen keinen Widerstand. Beide vielen dumpf in den Sand.
"Verdammt!", fluchte Terstion und löste sich endlich. "Los, Amica!", rief er und stürmte mit seinem Kurzschwert auf den schwarzen Griefler zu, der gerade mit dem Schnabel die Geldbörse aufriss. Amica war schneller und sprang. Ihr Gewicht schleuderte den Schwarzen zu Boden und beide wälzten über den Strand. Lautes Knurren begleitete sie. Sand spritzte auf. Doch keiner von beiden gewann die Oberhand. So schnell, wie sie zusammengeprallt waren, trennten sich beide wieder. Terstion setzte mit einem Sprung nach und hieb auf den Schwarzen Griefler, der jedoch flink zur Seite wich. Das Schwert prallte krachend auf die Kisten.
Der Lärm hatte einige der Piraten angelockt, die ebenfalls ihre Waffen zogen. Der schwarze Griefler knurrte kurz und sprang dann den ersten Piraten an. Dieser stach mit seinem Säbel zu, hatte ihn aber kaum erwischt. Mit scharfem Schnabel riss der Schwarze ihm das halbe Gesicht weg und der Pirat schrie entsetzt auf. Beide gingen zu Boden, doch der schwarze Griefler federte von seinem Opfer los und stürzte sich bereits auf den nächsten Piraten. Schreie und klirrendes Metall erfüllte die Luft. Flügelschlagen und Flüche, dazwischen ein Gurgeln. Terstion stürzte sich in das Getümmel, konnte den Griefler aber kaum erwischen. Seine Klinge sauste durch das dicke Nackenfell, richtete aber keinen Schaden an. Der Schatten hackte und riss wild und schnell zwischen den Piraten herum. Einem wurde der Arm abgetrennt, einem anderen hingen die Gedärme aus dem Leib. Amica hatte den schwarzen mehr als einmal erwischt und auch Terstion war sich sicher, mindestens einen guten Treffer zu landen. Der Griefler machte jedoch unbeirrt mit seinem blutigen Werk weiter. Bis er urplötzlich so schnell verschwand, wie er gekommen war. Es war, als hätte der Boden ihn verschluckt. Verletzte röchelten, Ängste griffen um sich und der Gestank nach Urin vermischte sich mit dem allgegenwärtigen Blut, während die Verwirrung den Kampf ablöste. Kampfeslärm gab es weiterhin. Unsicher sahen sich alle um.
Dann erst bemerkte Terstion, dass die Schreie auch von der Fischerhütte ertönten. Wütend stellte er fest, dass sich einige Sklaven losgerissen und sogar Schwerter und Äxte erbeutet hatten.
"So ein Scheißdreck!", spie Terstion aus. "Amica!" Doch sein Griefler kam nicht. Widerwillig drehte er sich und fand ihn im Kampf mit einem Piraten. "Nein!" Er sprintete los und schleuderte den Piraten mit einem gewaltigen Tritt seiner klauenbewehrten Beine zu Boden. Reines Chaos war ausgebrochen. Nichteinmal die Piraten kämpften gemeinsam. Donnernde Hufschläge entfernten sich vom Ufer. "Der darf uns nicht wieder erwischen, Amica, komm!". Er ließ den verletzten Piraten liegen und lief den Strand entlang. Einen überraschten Sklaven streckte er im Laufen nieder, ehe er zur Gefahr werden konnte. Ein anderer versetzte ihm aber kurz darauf einen Hieb, der ihn zur Seite taumeln ließ. Dieser Mensch hatte sich einen Speer besorgt und stach auf Terstion ein. Wild und ungezähmt bohrte er die Waffe in die langen Federn seiner Schwinge, was Terstion die Gelegenheit gab, sich zu sammeln. Viele Gegner übersahen, dass man die Schwingenarme treffen musste.
"Du verblödeter Nord!", versetzte er dem blonden Nöörd und wehrte den nächsten Angriff mit seinem Schwert ab. Die schnellen und kurzen Hiebe des Mannes trieben Terstion immer weiter zurück.
"Amica, los!", befahl er und der zwergenhafte Mensch wurde von einem urplötzlich anrasenden Griefler gepackt. Überrascht sah Terstion, wie der Mann kaum zuckte, trotz der klaffenden Wunde. Er drehte sich nur leicht und schleuderte Amica von sich. Das gab Terstion die Gelegenheit zum Schlag. Sein Schwert traf krachend auf den Arm des Mannes, der jedoch den Speer nun einhändig führte und das kaum weniger gekonnt. Brüllend stürzte er vor, Terstion lenkte die Spitze ab. Der Mann drängte jedoch weiter und warf sich auf Terstion. Er schaffte es, Terstions Kehle mit seinem Ellenbogen in den Sandzu drücken. Terstions Beine fanden keinen Halt auf dem Mann, er war zu kurz. Er schlug mit seinen Schwingen zu, doch der Nord schien diese Angriffe aushalten zu wollen. Der Phabaner merkte schon, wie sein Blick sich trübte, als der Nöördlinger endlich mit einem lauten Schrei zur Seite gerissen wurde. Amica hatte sich mit wilder Entschlossenheit auf ihn gestürzt. "Schluss jetzt!", befahl Terstion röchelnd und Amica wich zurück. Der Nord lag schwer atmend da. Terstion entschied blitzschnell, dass ihm seine Beute wichtiger war.
Er steckte sein Schwert weg und ließ den Mann einfach liegen. Zusammen mit Amica stürmte er Richtung Festland, wo der Nämathier verschwunden sein musste. Die Sonne neigte sich bereits, tauchte die Welt in rotes Licht und Terstion hoffte, dass er nicht allein unter der schlechten Sicht leiden würde. Als der Weg etwas breiter wurde, pfiff er zweimal kurz und schrill. Amica reagierte sofort und warf sich in seine Arme. Mit wenigen Schwingenschlägen trug er sie in der Luft. Die Schreie und das Klirren des Metall verfolgte sie noch kurz, doch Terstion schenkte dem keine Aufmerksamkeit, es war nicht sein Kampf und seine Beute durfte nicht schon wieder entkommen!
Endlich konnte er wieder die Hufe hören. Sie folgten der verwitterten Steinstraße weiter hinauf. Wahrscheinlich war auch er langsam erschöpft. Obwohl die Nämathier für ihre Ausdauer bekannt waren. Im letzten Dämmerlicht konnte Terstion erkennen, dass Ardano sich auf eine langgezogene Klippe zu bewegte Dort ließ sich der Nämathier bestimmt fest setzen. Aber wohl nicht ohne Kampf. Schon wieder. Terstion sank tiefer. Er folgte den Hufschlägen und als die Klippe in Sicht kam, rief er laut: "Gib auf, Ardano!"
Der Nämathier drehte sich nicht mal um. Stattdessen galoppierte der kräftige Pferdekörper mit schweißnassen Flanken nur noch schneller voran, während er seinen menschlichen Oberkörper weit nach vorn gebeugt hielt. "Niemals", erklang seine Antwort von unten. Terstion erkannte erst jetzt, dass eine Schlucht vor der aufragenden Klippe lag. Das Hufgetrappel hatte den schnellen Wasserlauf gut kaschiert. Eine Brücke spannte sich jedoch herüber, direkt in den Fels hinein.
"Lass den Mist!", schrie Terstion, doch das schien Ardano nur weiter anzuspornen. Donnernd trafen die Hufe auf das alte Holz, das ächzend und splitternd nachgab. Holzbretter segelten die Schlucht hinunter. Auf der Hälfte angekommen ging ein Ruck durch die Konstruktion. Alles sackte einen halben Meter ab. Erstarrte dann aber auf der Höhe, unsicher zu welcher Seite es kippen sollte. Ein trockenes Knacken ertönte. Ardano beschleunigte noch einmal. Terstion segelte fluchend über den Nämathier. "Beeil dich du verdammtes Pferd!", brüllte Terstion und Ardanos donnernde Hufe knallten auf das Holz. Splitternd neigte es sich zur rechten Seite. Der Winkel unter den Hufen wurde immer steiler. Mit einem letzten Satz schaffte er es tatsächlich das andere Ende zu erreichen, ehe die ganze Konstruktion die Schlucht hinab fiel und donnernd im Wasser aufgerieben wurde.
Ardano verschwand zugleich in den Eingang in der Klippe. Terstion ahnte schon einen Hinterhalt und segelte sehr vorsichtig näher. Er landete vorsichtig und betrachtete den Eingang. Alt und grob mit Werkzeug bearbeitet, befand er. Tiefe Risse zogen sich durch den Stein. Vorsicht war geboten. Er setzte Amica ab und trat vorsichtig ein. Hier konnte er nicht fliegen und das gefiel ihm gar nicht. Wenn eine knappe Tonne Nämathier auf ihn zugepflügt kommen würde, wäre er noch im selben Moment eins mit dem Staub des Bodens. Ein plötzliches Krachen ließ ihn aufschrecken und er sah, dass Ardano einen tragenden Stützbalken mit einem Huftritt zerstörte, um ihn aufzuhalten. Terstion pfiff und Amica raste an ihm vorbei, warf sich Ardano entgegen. Dieser trat noch einmal nach dem Balken, der krachend zerbrach. Terstion hechtete vor. Seine Schwingen schrammten an den zu engen Wänden und Steine fielen hinab. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Rücken, dann sein Bein. Doch er hörte auch Ardano fluchen. "Amica!", hustete Terstion in der staubigen Steinwolke. Dann würgte er und hustete. Er konnte sich kaum bewegen. Etwas klemmte ihn fest. "Verdammt!", würgte er hervor und Dunkelheit umfing ihn.
Besorgtes Knurren und anschließend eine Art Winseln. Terstion waren diese Töne vertraut und sie versetzten ihn in Sorge. Sie bedeuteten Angst bei Amica und was ihr Angst machte, nahm er nicht leicht. Er stemmte sich auf und versuchte die Augen zu öffnen. Alles brannte in seinem Körper. Mehr noch, als krampfhaftes Husten seinen Leib schüttelte. Terstion musste sich erst den Staub aus den Augen reiben, was mit verdreckten und blutigen Händen nicht leicht war. Schrammen und Kratzer, nichts Schlimmes.
Amica ließ nicht locker und strich um ihn her. "Ganz ruhig, Amica", brachte er mit mehr Zuversicht heraus, als er gerade für sich selbst zusammenkratzen konnte. Seine Schwingen konnte er nur teilweise bewegen, einige lange Schwungfedern waren unter dicken Steinen festgeklemmt. Das eine Bein konnte er bewegen, aber das andere hing fest. Insgesamt lag er so unglücklich, dass es ihm schwer fiel, sich umzudrehen, außerdem war es dunkel wie in einem Kellerloch.
"Wir brauchen etwas Licht, Amica", brummte er und tastete an seiner Hüfte entlang. Tatsächlich fand er seinen Gürtel und kramte die Öllampe heraus. Es glich fast einem Wunder, dass das Tongefäß überlebt hatte. Nach einigen Fehlversuchen entfachte er ein kleines Licht. Er stellte die Lampe an die Seite, um nicht geblendet zu werden und besah seine Misere.
Eines seiner Beine steckte in dem Geröllhaufen und war unglücklich abgeknickt, sodass er es nicht einfach heraus ziehen konnte. Ob es wohl gebrochen war? In jedem Fall schmerzte es. Seine Schwingen mochte er mit etwas Zeit frei bekommen.
Stöhnend ließ er sich nach hinten sacken. Er hatte Zeit. Ardano war sicher längst entkommen, dieses verdammte Pferd. Als Amica ihn auffordernd mit dem Schnabel anstieß, seufzte er und setzte sich auf, so gut es ging. Amica sprang auf einige höhere Steine und begann, mit ihren Pranken seine Schwingen zu befreien. Er selbst rollte andere Steine von seinen Schwingen.
"Verdammter Mist!", stöhnte er nach einer Weile. Ein besonders großer Findling musste sich verkeilt haben und er konnte sich einfach nicht weit genug drehen, um ihn zu erreichen. Immerhin schaffte es Amica, seine Schwingenenden von genug Geröll zu lösen, dass er sie heraus ziehen konnte. Doch auch mit dieser Freiheit gelang es ihm einfach nicht, sein Bein zu befreien. Schweiß rann seinen Körper herab und er sank zurück. Amica war gleich wieder bei ihm.
"Du treue Freundin", brummte er und kraulte sie im Schein des kleinen Lichts. Es tat gut, ihr Fell zu spüren und ihr zutrauliches Winseln unter den Fingern. Nach kurzer Zeit aber befreite sie sich und starrte aufmerksam den Geröllberg hinauf. Vorsichtig wandte sich auch Terstion um und versuchte den Berg an Geröll herauf zu starren. War da ein Schatten, oder bildete er es sich nur ein? Ein Geräusch wie von Krallen meinte er zu hören. Würde dieser unheimliche schwarze Griefler hier auftauchen, hätte er nicht die geringste Chance. "Mach dich bereit", befahl er Amica leise und zog mühsam sein Gladius. Selbst wenn er hier sterben sollte, er würde nicht kampflos gehen! Das wäre eines Phabaners unwürdig!
Doch dann regte sich nichts. Gespannt warteten beide darauf, dass etwas passieren würde.
Stille, fernes Pochen, vorsichtig tanzende Schatten. Vielleicht war es doch eine Sinnestäuschung?
Das Pochen wurde regelmäßiger und schien sich zu nähern, allerdings von hinten. Ob der schwarze Griefler dort war oder nicht, Amica entspannte sich etwas und hüpfte zurück zu Terstion. Ehe das Klopfen der Hufe durch den Schein einer Fackel ergänzt wurde.
Ardano stoppte im Durchgang und lehnte seinen Oberkörper an die Wand. "Zäh warst du schon immer", erklärte er.
"Ach, nach deiner vierten Flucht kommst du zurück? Hast du Sehnsucht nach mir?", entgegnete Terstion.
"Ich mag dich durchaus, aber die Sklaverei reizt mich einfach nicht. Ich weiß ja nichtmal, warum ausgerechnet auf mich armen Klepper ein so langatmiger Sklavenjäger wie du angesetzt wurde", bemerkte Ardano.
Terstion überlegte nicht lang: "Du hast ein paar wichtige Leute in Merphab verärgert und deinem Herrn die beste Chance auf direkte Lieferungen zum Phab, unserem König selbst genommen."
Ardano zuckte mit den Schultern: "Euer König ist mir egal. Davon hätte ich eh nichts gehabt. Wie kommt es, dass du dich noch nicht auf mich gestürzt hast?"
"Vielleicht empfinde ich tief in mir einen tiefen Respekt und würde gerne mehr von dir erfahren. Oder dies verdammte Geröll hinter mir hindert mich daran", überlegte Terstion laut und voller Sarkasmus. "Möchtest du es dir bequem machen, bis ich es heraus schaffe? Dürfte dir doch bestimmt gefallen."
Ardano lachte kurz und trocken auf. "Ich hege doch keinen Groll auf dich. Sicher, du machst mir das Leben schwerer, aber für einen Phabaner bist du schon in Ordnung."
Terstion lachte kurz: "Und das Geröll?"
"Nennen wir es eine einfache Fehleinschätzung, wobei es ja durchaus geklappt hat, mehr als aufhalten wollte ich dich nicht", nachdenklich rieb Ardano sich das Kinn.
"Was hat dich dann dazu bewogen, mir hier Gesellschaft zu leisten?", fragte Terstion.
Ardano lächelte und seine Hufe klackten auf dem Stein, als er sich etwas näher heran bewegte. "Ich kann dich doch nicht so zurück lassen. Außerdem schwebt mir ein kleiner Handel vor."
Terstion blieb wachsam. Wohin sollte das führen? "Ich höre", sagte er.
Der Nämathier klopfte nervös mit einem Huf. "Meine Freiheit gegen deine Freiheit."
"Du möchtest mich also befreien und hoffst, dass ich dann von dir ablasse? Wenn ich mich richtig erinnere, werden wir als hinterhältige Harpi bezeichnet, woher also das Vertrauen?", fragte Terstion. Seine Gedanken rasten förmlich. Wenn Ardano kein Problem hatte, wäre er kaum zurück gekommen. "Spielen wir doch einfach mit offenen Karten", setzte er hinzu. "Ich bräuchte noch etwas, bis ich mich befreie und du hast offensichtlich Sorgen. Du hast dich in diesem günstigen Moment nicht aus dem Staub gemacht, also brauchst du mich für etwas."
Ardano schüttelte den Kopf: "Scharfsinnig wie immer. Aber du hast schon recht. Ich brauche deine Hilfe. Ich habe mich umgesehen. Keiner von uns kommt hier allein raus. Wir sind in einer brüchigen, alten Ruine gelandet."
"Ich hätte da einen Vorschlag", sagte Terstion. "Bis wir diesen Ort verlassen haben und wieder den Horizont sehen, sind wir verbündet. Danach wird sich zeigen, was passiert."
Ardano überlegte. Er schien zwar nicht ganz zufrieden, gab sich aber letztendlich einen Ruck. "Abgemacht. Schwöre auf deine Ehre als Phabaner und Untertan des Phab. Unsereins mag es nicht viel bedeuten, aber euch ist das ja viel wert", sagte Ardano.
"Na schön, auf was schwört ihr denn?", entgegnete Terstion.
Ardano lächelte, während er näher kam. "Ein ehrlicher Handschlag ist unsereins Schwur genug."
Terstion ging es zwar mächtig gegen den Strich, aber eine bessere Wahl hatte er wohl nicht. Er steckte sein Schwert ein und hob seine Hand mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger zum Schwur. "Ich, Terstion Lucano, schwöre dem Bund mit dir zu, bis wir den Horizont erneut erblicken. Bei meinem Phab und meiner Ehre!"
Anschließend nahm Ardano seine Hand und rückte sie fest und sicher und entgegnete schlicht: "So sei es."
"Herzerwärmend", erwiderte Terstion so trocken wie eine Wüste, "jetzt hilf mir hier raus. Das Bein ist schon taub."
"Gib mir dein Schwert", forderte Ardano ihn auf.
"Wehe du hackst mein Bein ab, das würde uns beiden echt den Tag verderben", grummelte Terstion. Ganz konnte er die Angst nicht verbergen.
"Keine Sorge, du musst mir nur kurz vertrauen", gab Ardano zurück und Terstion gab ihm etwas widerwillig seinen Gladius. Er konnte nicht genau sehen, was Ardano trieb, aber es knirschte und deutlich konnte er hören, wie der Nämathier aufstöhnte, als er sich gegen etwas stemmte. Tatsächlich bewegte sich der Brocken gerade weit genug, dass Terstion sein Bein heraus kam. Vorsichtig stellte er es auf und knickte ein Stück weit ein. Es kribbelte und prickelte, schien aber nicht gebrochen. Amica sprang freudig um ihn und rieb sich an seinem anderen Bein, bis sie endlich gestreichelt wurde.
"Keine schlechte Arbeit", murmelte Ardano und hielt noch immer das Schwert. "Hab mal in meiner Heimat in einer Schmiede gearbeitet, aber die Pfuscher hätten so etwas kaum hinbekommen." Damit hielt er Terstion das Kurzschwert mit dem Heft voran hin.
Terstion steckte den angebotenen Gladius wieder in die Scheide. "Danke, ich muss mich ja auch darauf verlassen können. Wohin müssen wir?"
Ardano nahm seine Fackel wieder an sich. Terstion belastete vorsichtig sein Bein und stellte zufrieden fest, dass es ihn trotz des Prickelns noch trug. So schlimm konnte es also nicht sein. Er nahm die Öllampe und folgte dem Nämathier. Amica war zwar noch immer aufgeregt, schien aber derzeit weder vor irgendwelchen Schatten noch von Ardano beunruhigt zu sein. Kein Wunder, Ardano war schon bei ihren früheren Treffen kaum je aggressiv gewesen. Sie kamen an ein paar Abzweigungen vorbei und Ardano erklärte: "Ich habe mich hier schon gründlich umgesehen. Hier hat wohl vor langer Zeit jemand gelebt, aber das alles ist unbrauchbar und hilft an der entscheidenden Stelle nicht weiter."
Die besagte Stelle fand sich einige Schritt durch dunkle Gänge weiter nach unten. Licht tastete sich zögerlich über die grob behauenen Wände und ein sanftes Rauschen war zu hören. Endlich kamen sie an einem steinernen Absatz an und Terstion sah mit eigenen Augen, weshalb Ardano nicht allein weiter kam. Eine tiefe Schlucht durchschnitt den Berg und Wasser floss unten schäumig wild hinab. Es war schlicht selbstmörderisch zu springen. Die Reste einer steinernen Treppe führten alsbald auf den senkrecht abfallenden Klippenrand. Aber gegenüber, nur ein paar Schritt entfernt gab es eine große, hölzerne Brücke, die hoch gezogen war.
"Und hier siehst du mein Problem", grollte Ardano. "Da ist zwar ein schmales Loch, aber ich kann bis da nicht hin springen. Terstion schätzte die Umgebung ab und erkannte schnell, dass die Schlucht viel zu eng war, um mit ausgebreiteten Schwingen nach oben zu segeln. Selbst die Winde waren hier schwer einzuschätzen.
"Schaffst du es rüber?", fragte Ardano und trat sich von einem Huf auf den anderen.
"Ich denke schon. Amica, pass auf ihn auf", befahl er seinem Griefler.
Sein Bein war zwar noch immer etwas unsicher, aber tat seinen Dienst. Er zog seinen Gladius. Sollte ihn dort etwas erwarten, wollte er lieber direkt kampfbereit sein. Er nahm sorgsam Maß und sprang dann ab. Nur zwei Schwingenschläge hatte er, der Wind griff erst voll in seine Federn, blieb dann aber plötzlich komplett aus. Er sackte ab. Erschrocken schnaufte er. Stieß die freie Hand vor und schaffte es nur knapp eine hölzerne Strebe zu greifen und mit den Füßen ersten Halt zu finden. Dann zog er sich durch das Loch in der Wand hinein. Nach der frühmorgendlichen Außenwelt, war das schattige Loch wieder schwer zu durchdringen. Er musste die Nacht im Geröll verbracht haben. Vorsichtig tastete er sich weiter vor, den Gladius bereit. Er fühlte einige Steinchen unter seinen Füßen. Seine Krallen schabten über glatte Steinplättchen, aber kein Gegner griff ihn an.
"Es scheint sicher zu sein!", rief er Ardano zurück. "Ich versuche die Brücke herunter zu lassen!"
Ardano winkte ihm und so begann Terstion, die Dunkelheit genauer in Augenschein zu nehmen. Langsam gewöhnte er sich an die Lichtverhältnisse und konnte einige Tonscherben und kaputte Marmorplatten erkennen. Er brauchte einige Zeit, bis er dem Lauf der Seile folgen konnte und am Ende eine Seilwinde in einem schmalen Nebenraum fand. Durch einen schmalen Spalt fiel gerade genug Licht herein, dass Terstion den Keil fand, der die Vorrichtung in der Stellung hielt. Er rüttelte daran und löste ihn endlich aus der Halterung. Nun begann er die Winde allein zurück zu drehen. Seine Muskeln spannten sich. Die Mechanik war auf mindestens zwei oder mehr Personen ausgerichtet. Doch mit viel Anstrengung setzte sich die hölzerne Brücke in Bewegung und neigte sich Stück um Stück tiefer herunter. Schweiß rann an Terstion herunter und durchnässte seine schmutzige Tunika, als er endlich hörte, wie die Brücke auf der anderen Seite aufsetzte. Mit einer schnellen Bewegung setzte er den Keil wieder ein, damit die Brücke auch unten blieb.
"Ists sicher?", hörte er Ardanos Stimme herüber hallen.
Terstion atmete einmal tief durch und ging dann zurück in den Brückenraum. Er winkte und rief Ardano zu: "Komm rüber, das scheint mir haltbare Arbeit zu sein!"
Amica trabte munter über die breite Brücke. Sie hätte problemlos einem Karren Platz geboten. Das Holz knarrte zwar, als Ardano seinen massigen Pferdeleib vorsichtig über die Brücke brachte, doch sie blieb weiter völlig stabil. Ganz im Gegensatz zur ersten Brücke, deren Trümmer im Wildwasser brachen. Amica war bereits wieder bei ihm und rieb sich zutraulich an seinem Bein. Ardano warf noch einen kritischen Blick in die Schlucht, doch sie wurde nicht attraktiver.
Endlich angekommen erklärte er: "Siehst du, gut dass wir Verbündete sind."
Terstion antwortete nur: "Ihr glaubt zwar, wir seien hinterhältig, aber mein Schwur gilt, so ungern ich ihn auch habe. Sonst hätte ich vielleicht längst von dir abgelassen."
"Na dann hat eure Ehrenhaftigkeit ausnahmsweise auch mal was Gutes", grinste Ardano und seine Hand krachte in Terstions Kreuz.
"Treibs nicht zu weit!", fauchte Terstion und wandte sich dann dem weiteren Weg zu. Erst jetzt bemerkte er das sauber gemauerte Tor im phabanischen Stil, das leider auch geschlossen war. Aber nicht nur das. Mit roter Farbe prangten große Worte darauf:
"Ich, Lubelius Sapienti, Custodes der Iudicii, warne euch! Kehrt um! Hier wartet der schwarze Griefler!"
Terstion runzelte die Stirn. "Hier? Ich dachte, das Wesen ist bei den Piraten."
"Was steckt überhaupt hinter dem schwarzen Griefler? Er scheint ja kein Unbekannter für dich zu sein", fragte Ardano.
"Ach, alte Legenden und Geschichten, bis zu den Vorfällen bei den Piraten hätte ich nichtmal geglaubt, dass es mehr als eine Gruselgeschichte für Kinder ist", erklärte Terstion.
Kritisch sah Ardano die Inschrift an. Sein Schweif schlug nervös. "Erzähl mir davon. Da steckt mehr dahinter, als reine Legende."
Terstion kratzte sich am Kopf. "Ich war nie besonders gut darin, Märchen zu erzählen. Mal schauen, ob ich es zusammen bekomme."
Ardano ließ legte sich mit seinem großen Körper auf den Schutt und schaute ihn erwartungsvoll an. Terstion setzte sich und begann: "Es war einmal ein völlig schwarzer Griefler. Dieser war mit einem ungewöhnlich starken Wunsch belegt, glänzende Dinge, insbesondere Geld zu horten. So begann er, den Leuten Äre um Äre zu rauben. Anfangs war er noch trickreich und wurde ob seiner Klugheit sogar geliebt, insbesondere von ärmeren Leuten."
"Die Armen haben ja auch selten Äre", warf Ardano ein.
"Ich versuche mich hier zu konzentrieren, also sei still", entgegnete Terstion. Amica bettete ihren Kopf auf seinen Beinen und er kraulte sie.
"Also, die armen Leute mochten den schwarzen, diebischen Griefler. Die Reichen verfolgten ihn. Doch irgendwann hatte jemand das Nest des Grieflers aufgestöbert und alles geraubt, vielleicht sogar seine Familie getötet, weiß ich nicht mehr genau. In jedem Fall wurde der Griefler so rachsüchtig, dass er fortan allen die Äre raubte, egal ob arm oder reich. Er begann auch zu morden und wurde von einer Plage zu einem echten Monster. Niemand schaffte es ihn zu stellen, oder zu töten. Man sagt, er würde jeden umbringen, der eine Äre aus seinem Hort habe oder als gieriger Dieb herumschlich. Oh und natürlich bringt er unartige Kinder um. Die Lehre dieser Geschicht, die böse Tat die lohnt sich nicht."
Ardano sah ihn weiter erwartungsvoll an. "Wie gehts weiter?"
Terstion stockte. "Wieso weiter? So endet die Geschichte. Ich habe nie behauptet, dass sie gut ausgeht, oder? Man erschreckt Kinder damit und will sie von Diebereien abhalten."
"Da muss man sich nicht wundern, dass ihr manchmal seltsam seid. Bei uns wäre irgendein Held gekommen und hätte die Sache gelöst, ihn einfach umgebracht", schnaubte Ardano.
Terstion verdrehte die Augen. Dann sah er wieder auf die Inschrift. "Herzlichen Glückwunsch, du darfst gerne der Held sein, der die Geschichte des schwarzen Grieflers beendet. Laut Legende hat es noch keiner geschafft, alle Helden starben. Oder er beendet auch deine Geschichte," sagte der Phabaner mit einem Lächeln.
Zufrieden sah er, dass Ardano sich schüttelte. "Das Biest würde ich lieber nicht noch einmal sehen."
"Dann sollten wir schauen, ob wir bald hier heraus kommen. Die Tür sieht sehr solide aus", bemerkte Terstion, stand auf und legte die Hände auf das Holz. Knarrend schwang das Tor ein Stück nach innen.
"Es ist nicht verschlossen?", fragte Ardano.
"Wer die Warnung nicht ernst nimmt, ist an seinem Ende wohl selbst schuld", vermutete Terstion. Dann setzte er nach: "Gehen wir lieber, ich habe langsam echt Hunger und keine Vorräte. Pferd steht noch nicht auf der Speisekarte, also sollten wir besser heraus kommen."
Ardano erhob sich und trottete unbehaglich näher, als Terstion seinen Gladius lockerte und die Tür vorsichtig öffnete. Hinter dem Tor erstreckte sich ein Weg. Helle Löcher im Gestein weiter oben sorgten für genug Licht, um etwas zu erkennen. Auch wenn die Helligkeit einem echten Tag in einer Stadt kaum nahe kam, war es doch genug, um sich umzusehen. Es war unheimlich, wie diese völlig normale Einkaufsstraße im Phabanerstil vor ihnen lag, aber niemand zu sehen war. Fröstelnd schritten sie den ausgetretenen Weg entlang, Wagenräder hatten tiefe Spuren hinterlassen und Trittsteine ermöglichten eine sichere Überquerung, selbst wenn der Weg eher einem Fluss ähneln würde.
"Ihr baut eure Städte selbst im Berg nach eurer Gewohnheit", stellte Ardano fest, um die Stille zu durchbrechen.
"Hat sich halt bewährt, so kann man sich in jedem Ort recht schnell zurecht finden", erklärte Terstion. "Vielleicht sind ja in ein paar der Küchen noch Vorräte geblieben."
Er trat in einen offenen Verkaufsraum. Die marmorne Theke war noch vollkommen intakt und in den Feuerschalen lag noch immer Asche, als sei der Besitzer nur schlafen gegangen. Terstion schaute sich in dem spärlichen Licht um, während Ardano sich noch immer nervös in den Eingang stellte und den Weg im Auge behielt. Terstion kramte die Sachen heraus, die noch brauchbar waren. Etwas Feuerholz und Öl, einige Tonkrüge und Zundmaterial. Amica tappste weiter in den Laden hinein, aber sie kam sicher zurecht.
"Dann hoffen wir mal auf unser Glück", meinte Terstion. Als er den ersten Tonkrug öffnete konnte er bald den süßen Honig riechen. "Volltreffer!", freute Ardano sich. "Honig kann nicht verderben!"
"Ja, aber allein davon zu leben finde ich auch nicht so attraktiv", entgegnete Terstion und machte sich an den nächsten Krug. Auch hier schwappte eine Flüssigkeit umher. "Olivenöl!", stellte Terstion erfreut fest. Zwei weitere Tonkrüge waren enttäuschend verrottet und wurden schnell wieder verschlossen. Dann ein erneuter Treffer! "Das Mehl ist noch gut, wunderbar, das Abendessen ist gerettet. Fehlt nur noch etwas zu trinken. Ein unterdrückter Laut von Amica weiter hinten im Raum ließ Terstion aufhorchen. "Ich gehe nachschauen", erklärte er und setzte seine Pfoten vorsichtig in den hinteren Teil des Ladens. Es gab Tische, die derzeit fast unbesetzt waren. Ein zusammengesunkener Körper war Terstions erstem Blick in der tiefen Dunkelheit des Ladens völlig entgangen. Es war von vornherein deutlich zu sehen, dass mit diesem Phabaner nicht mehr viel anzufangen war. Seine Kleidung hing teilweise in Fetzen, die Schwingen waren leblos herabgesunken und ein großzügiges Loch klaffte im Bauch. Tisch und Bank hielten den starren Körper. Ein aufgerissener Lederbeutel bestätigte Terstions Verdacht. "Der schwarze Griefler. Mist! Na, immerhin scheint er schon länger hier zu liegen. Vielleicht ist der schwarze Griefler ja wegen seinem Hunger verschwunden."
Mit klopfenden Hufen kam auch Ardano näher und besah sich den Toten. "Der hats hinter sich", brummte er. Dann nahm er das kurze Schwert des Toten aus der Scheide. "Was meinst du?", fragte er Terstion.
"Kannst du damit umgehen?", fragte dieser.
"Kein Stück, ich verlasse mich lieber auf meine Hufe", erwiderte Ardano.
Terstion schüttelte den Kopf. "Wahrscheinlich würde der schwarze Griefler eh zuerst dein Hinterteil angreifen. Das dürfte für ihn ein Festmahl darstellen."
"Na danke für den Hinweis", sagte Ardano und steckte den Gladius zurück. "Über einen Speer würde ich mich mehr freuen. Die Reichweite gefällt mir."
"Auf der glücklicheren Seite hat Amica uns hier den Rest für unser Abendessen gefunden", sagte Terstion und nahm eine Amphore aus der Halterung hinter dem Toten. "Wein", grinste er, "der wird unserer Henkersmahlzeit gut bekommen."
Ardano schnaubte ungehalten: "Also ich habe nicht vor, hier zu sterben. Also lass deine Sprüche sein! Willst du kochen, oder soll ich?"
Jetzt schaute Terstion etwas besorgt. "Du kannst kochen?"
"Was glaubst du, was von einem Sklaven alles erwartet wird? Ich war immerhin teuer! Beinahe ein Edelsklave für den Haushalt. Außerdem war ich auch mal frei und auf der Flucht muss man kreativ sein, grad wenn man vor dir flieht und keine Äre in der Tasche hat."
"Schon gut", wiegelte Terstion ab. "Kümmere du dich darum, ich sorge dafür, dass deinem Hintern nichts geschieht."
Geübt entfachte Ardano ein Feuer in einer der Marmorkuhlen und bereitete einen Teig aus dem Mehl vor. Wasser war glücklicherweise auch noch vorhanden. Einige getrocknete Früchte schienen ihnen ebenfalls noch genießbar. So würde es Fladenbrot mit Fruchtbeilage geben. Das Feuer knackte fröhlich und belebte die staubige Gaststube zu neuem Leben. Ihr reichlich toter Gast im hinteren Teil erinnerte sie dennoch beständig daran, wach zu bleiben.
Amica kuschelte sich an Terstions Seite und döste vor sich hin, während langsam der Geruch des Essens durch den Laden schwebte. Ardano brummte vor sich hin. Es klang ein bisschen wie ein Lied, fand Terstion. Ohne es zu merken, summte er die Melodie mit. Dann brach er abrupt ab.
"Eine Freundschaft zwischen uns kannst du vergessen, Ardano", erklärte er harsch. "Ich habe einen Schwur geleistet!"
"Immer mit der Ruhe", entgegnete Ardano, der offensichtlich viel zu gut gelaunt war, um sich jetzt herunter ziehen zu lassen. "Solange wir hier sind, macht es keinen Sinn einander zu bekämpfen. Was hast du eigentlich geschworen? Offensichtlich nicht meinen Tod."
Terstion ließ sich Zeit, ehe er antwortete: "Ich musste schwören, dich noch in unserem Land zu fassen und lebend an deinen ehemaligen Herrn Crasso auszuliefern. Die Belohnung schien mir damals gut. Hätte ich den Aufwand geahnt, hätte ich wohl abgelehnt oder weit mehr verlangt."
"Was bin ich ihm denn wert?", fragte Ardano neugierig.
Terstion rieb sich die Augen. Der Tag war anstrengend gewesen und im Schutt zu liegen ersetzte keinen Schlaf. "Ich werde 1.000 Äre bekommen. Das wäre sogar über deinem Wert als Neuware. Nämathier sind ja doch eher selten."
Ardano schnaubte verächtlich. "Er hat nie verstanden, dass ein echter Nämathier niemals seine Freiheit aufgibt. In uns lebt beständig der Drang zu laufen. Hinter einem Geschirr gespannt ist das nur halb so schön und mit der Peitsche ist dann jegliche Freude verflogen. Selbst Schuld, dass er mir so eine gute Gelegenheit gab. Hat er auch gesagt, was er mit mir vorhat?"
Terstion gähnte, ehe er antwortete: "Ein Exempel statuieren. Also vermutlich wirst du nicht lang überleben. Er muss darauf achten, dass es keine anderen Sklaven versuchen. So will es auch der Phab, er hat also nicht wirklich große Auswahl. Dir nimmt Crasso wohl hauptsächlich den Zeitpunkt deiner Flucht übel. Direkt mit seiner ersten und einzigen Lieferung für den Phab, das ist schon hart."
"Soll er an seiner Gier ersticken, der verdammte Harpi", grummelte Ardano. "Warum eigentlich ausgerechnet du? Hatten sie keinen erfahreneren Jäger als dich Jungspund?"
"Vergleiche uns nicht mit den geflügelten Affen. Die Harpi kann ich nicht leiden. Ich wurde angeheuert, da ich mich an mein Wort halte und nicht so wankelmütig bin, wie meine Kollegen", entgegnete Terstion. "Wahrscheinlich hat er schon damit gerechnet, dass es Probleme gibt."
Ardano lachte: "Wundert mich nicht. Ich war schon immer ein Überlebenskünstler und hatte viele Aufgaben bekommen. In Freiheit wie auch bei euch. So manches Mal wurde mir bei Versagen mit dem Tod gedroht. Daher musste ich mir immer wieder was einfallen lassen."
"Nur der Kampf zählt nicht dazu, wie?", sagte Terstion und kraulte die an ihm geschmiegte Amica.
Der Nämathier verstummte und holte die fertigen Fladen aus dem siedenden Ölbett. "Ich mag keine Kämpfe. Man hat zwar versucht, es mir beizubringen, aber ich scheue mich davor, jemanden absichtlich das Lebenslicht zu löschen. Jeder hat seine Daseinsberechtigung und ist mehr als nur ein Gegenstand."
"Das sieht der Phab und mein Volk anders. Alle Kriegsgefangenen und Versklavten sind im Grunde wertvolle Gegenstände. So ist es nunmal. Wenn ihr gut seid und einen guten Herrn habt, könnt ihr euch immernoch frei kaufen. Die Hoffnung bleibt doch." Terstion stand vorsichtig auf und kam zu Ardano, um sich etwas von den Fladenbrot zu nehmen.
Ardano sah ihn ernst an. "Ihr seid doch verrückt. Glaubt ihr wirklich, alles sei käuflich? Das Leben, der Gehorsam und der Tod? Was ist man ohne Freiheit? Am Ende bleibt eh nur Staub und der ist immer frei. Das könnt nichtmal ihr aufhalten."
Terstion nahm sich das Fladenbrot mit den eingelegten Früchten und einen Krug mit Wein. "So handhaben wir es nunmal und leben gut davon. Wer sich auflehnt ist eine Gefahr, wer mitspielt kann gewinnen und ebenfalls zu Ruhm und Stärke gelangen."
"Als könnte ein Nämathier Phab werden", Ardano schüttelte den Kopf als er fortfuhr, "so nett ist euer System dann doch wieder nicht. Nur eure Bürger dürfen den neuen Hahn des Misthaufens wählen."
Terstion nahm einen Bissen und kostete den Wein. Der süße Geschmack füllte seinen Mund und der Wein spülte die staubige Kehle frei. Etwas besser gelaunt meinte er: "Der Phab ist eine andere Sache. Auch da gab es schon Hornochsen, die besser nie dorthin hätten gelangen sollen. Als einem mal die Staatsgaleere sank, ließ er vor Wut das Meer auspeitschen von zwölftausend Soldaten. Kein Volk hat ein Vorrecht auf Idioten, fürchte ich. Unsereins schwimmt doch eh nur in den Regeln, die uns gegeben."
Auch Ardano begann auf seinem Fladen zu kauen. Nach einer Weile antwortete er: "Und letztlich sind wir es, die diese Regeln akzeptieren oder nicht. Ich halte mich nicht an eure Regeln. Aber an eine freie Abmachung, die ich mit meinen Händen besiegelt habe."
Terstion lachte: "Ich würde meine Situation kaum als 'frei' bezeichnen."
Auch Ardano lächelte. "Gut, ich gebe zu, dass es in diesem Fall auf deiner Seite nicht ganz frei gewesen sein könnte." Er stellte die Pfanne mit dem siedenden Öl auf eine andere Kuhle und legte noch einen Holzscheit nach. Flackernde Flammen erhellten die Umgebung und schenkten ihnen eine leichte Wärme.
"Wir sollten hier übernachten", brachte Terstion schließlich ein. "Zumindest gibt es hier nur einen ordentlichen Eingang, auf den wir achten sollten."
Ardano nickte: "Guter Vorschlag. Ich kann auch gerne die erste Wache übernehmen. Du hast schließlich mehr geleistet heute."
Terstion war zu müde, um ernsthaft zu widersprechen. Er legte Amica etwas Fladenbrot vor den Schnabel und sie wachte gerade genug auf, um dieses zu verschlingen und etwas Wasser zu trinken. Dann machten beide es sich mit ein paar Bänken bequem. Immerhin würden sie nicht an Hunger sterben. Die Bewohner mussten wirklich Angst gehabt haben, da sie sogar ihre Waren zurück gelassen hatten.
Viel weiter kam er nicht, da war er schon eingeschlafen.
Das Scharren von Hufen weckte Terstion. Ardano beugte sich zu ihm und er spürte die kräftige Hand des Nämathiers auf seiner Schulter lasten.
"Genug geruht, du bist an der Reihe", erklärte er.
Der Phabaner gähnte einmal, setzte sich auf und rieb sich die Augen. "Irgendwas gewesen?", murmelte er.
"Klar, die Leiche hat sich bewegt und du wurdest fast vom schwarzen Griefler gefressen", bemerkte Ardano.
Terstion streckte sich und seine Schwingen breiteten sich aus, bis sie allzu bald an die Wände des Raumes stießen. "Danke, jetzt fühle ich mich gleich etwas wacher."
Der mächtige Pferdeleib von Ardano kauerte sich in die Nähe des noch immer leicht glühenden Feuers und er selbst konnte praktischerweise seinen Oberkörper auf der Theke ablegen. "Noch nicht ganz so gut, wie ein Lagerfeuer in der Steppe, aber was solls", brummte er und dämmerte dann langsam weg.
Terstion machte ein paar Lockerungsübungen, um richtig wach zu werden. Dann sah er sich nach Amica um. Sie tappste noch etwas schläfrig herum. Als er sich jedoch an die Glut stellte und offensichtlich nicht aufbrach, ging sie zu Ardano und legte sich an seine Seite. Terstion zuckte mit den Schultern. Amica war seine treueste Freundin, sie würde damit eher sicher gehen, dass Ardano nicht verschwand, als untreu zu werden.
Zwei weitere kleine Holzklötze fanden den Weg auf die Glut. Mit etwas Geduld und Puste, war bald wieder ein angenehmes kleines Feuerchen entstanden. Er ließ die Gedanken etwas schweifen, ohne die Straße aus dem Blickfeld zu verlieren.
Dies war offensichtlich eine sehr gut befestigte Stadt, teils direkt in den Fels gehauen oder heraus gearbeitet, teils gemauert und verputzt. Wahrscheinlich eine sehr lange Sklavenarbeit. Trotzdem konnte er nicht sagen, je von diesem Ort gehört zu haben. Andererseits hatte auch nirgends ein Namensschild gehangen. Manche Zerstörungen könnten auch Absicht gewesen zu sein. Irgendwas musste hier vorgefallen sein, dass der Ort nicht nur aufgegeben, sondern ausradiert worden war. Terstion bezweifelte, dass allein der schwarze Griefler daran schuld sein konnte. Der Name des Iudicii, der die Warnung angebracht hatte, sagte ihm nichts. Die Machtposition war immer mal wieder in Benutzung, aber hauptsächlich in Kriegszeiten.
Er grübelte noch eine ganze Zeit darüber, was geschehen sein mochte und wo sich aller Wahrscheinlichkeit nach ein Ausgang befand, als er urplötzlich das Klicken kleiner Steine hörte. In einer einzigen, fließenden Bewegung hockte er auf der Theke und hatte seinen Gladius halb gezogen. Keinen Moment zu spät! Er sah noch gerade den Absprung des schwarzen Schattens aus einem zur Straße geöffneten Fenster. Dem Phabaner blieb kaum Zeit, die Präzision des Grieflers zu bewundern. Sofort stürzte er vor und knallte im Sprung mit dem Wesen zusammen. Schwert und Schnabel trafen aufeinander, doch leider nur quer zueinander. Beide gingen zu Boden. Der Lärm reichte, um Ardano und Amica zu wecken.
"Das Drecksvieh ist hier!", rief Terstion überflüssigerweise.
"Dacht ich mir", antwortete Ardano alarmiert und Amica knurrte tief und bedrohlich. Ihr Nackenfell stand hoch und sie stürzte sich aggressiv auf den schwarzen Artgenossen.
Beide Griefler rollten über den Boden und hackten mit den Schnäbeln aufeinander ein. Terstion stand mit seinem Gladius daneben, aber der Feuerschein reichte einfach nicht aus, um genau zu erkennen, wann er zuschlagen sollte. Ardano hatte eine Bank gepackt und schien sich noch unsicher, ob er sie zur Verteidigung, oder zum Zuschlagen nutzen sollte.
"Was jetzt?", fragte der Nämathier unentschlossen.
Terstion konzentrierte sich. Genau in dem Moment, als sich die beiden Griefler bluttriefend auseinander stießen, hieb er mit dem Schwert auf den Schwarzen ein. Doch der war schnell und wich mit einem Sprung aus. Diesen Moment nutzte Ardano aus. Er mochte kein Gespür für den Kampf besitzen, wohl aber für den richtigen Moment. Die Bank schwang herum und fegte den Schwarzen aus der Luft in die dunklen, hinteren Räume. Dort schepperte es laut, doch kurz darauf kratzten Krallen über den Boden und der Schwarze war mit der Dunkelheit verschmolzen. Er war nicht im geringsten zu sehen und doch hätte er von überall auf sie zuspringen können. Nervös wichen die Drei auf die Straße zurück.
"Dieses verdammte Mistvieh", fluchte Terstion. Dann beugte er sich zu Amica. Sie hatte blutige Striemen, aber schien noch voll beweglich. Das beruhigte Terstion fürs Erste.
Ardano hielt noch immer die Bank und erwartete den nächsten Angriff. "Wir sollten von hier verschwinden, so lang es geht", brummte er.
"Na schön, geh vor, ich halte Ausschau, ob er uns folgt", sagte Terstion. "Mir ist unbegreiflich, wie das verdammte Vieh so viel aushalten kann. Jeder normale Griefler wäre schon dreimal verreckt."
Der Nämathier nahm schnell noch einen halb brennenden Scheit aus dem Feuer. Klappernd setzte Ardano sich in Bewegung und folgte der Straße. Die Bank hatte er vorsorglich geschultert, denn sie war besser als nichts. So gingen sie aufmerksam den Straßenzug entlang. Es gab keine Seitenstraßen. Alle Häuser standen dicht an dicht und erlaubten kaum mehr als den nötigen Platz. In den Mietskasernen von Merphab war es teilweise nicht anders, aber die Baumaterialien waren hier ungleich besser. Brannte es in Merphab beinahe täglich aufgrund des Holzes in den ärmeren Vierteln, so gab es hier kaum Möglichkeiten, genug Brennbares zu finden. Wahrscheinlich musste es umständlich angeliefert werden. Glücklicherweise kam das Tageslicht von oben herein und brachte zumindest etwas Licht in die Gassen. Einst waren die Wände offenbar durchaus schön bemalt gewesen, aber an vielen Stellen wurden Zeichnungen zerschlagen und unkenntlich gemacht. Gerade wollte Terstion darauf hinweisen, da bemerkte er die Silhouette des Grieflers gemächlich mitten auf der Straße hinter ihnen her gehen. Er schien nicht im Mindesten verletzt oder verängstigt. "Das Mistvieh verfolgt uns, aber langsam", raunte Terstion. "Siehst du irgendetwas Brauchbares?"
"Tatsächlich hätte ich da eine Idee", murmelte Ardano. "Halt Amica im Zaum, wir müssen gleich in ein Gebäude. Dort empfangen wir den Schwarzen."
Terstion gab einen leisen Pfiff von sich und Amica, deren Rückenfell schon aufs äußerste gesträubt war und die sich auf eine weitere Auseinandersetzung schon beinahe gefreut hatte, schaute ihn enttäuscht an. Doch sie fügte sich, als Terstion und Ardano in ein anderes Gebäude eintraten. Hier stank es und Terstion war im ersten Moment verwirrt, was der Nämathier eigentlich vor hatte.
Dieser hielt das glühende Holzstück über eine kleine Öllampe. Der Docht entzündete sich und eine Flamme entstand. Deren Schein erleuchtete den Raum gerade genug, dass sie sich umschauen konnten.
"Was zum Henker willst du in einer Urinwäscherei?", fragte er verblüfft. Dann fielen ihm die großen Tonschalen auf, die etwas niedriger im Raum standen. Ardano war schon dabei, eine der Schalen aus ihrem Podest zu heben. Es kostete ihm offensichtlich eine Menge Mühe, aber er hatte sie doch erstaunlich schnell aufgestellt.
"Ihr müsst den Griefler da rein bekommen, dann schließe ich den Deckel", erklärte Ardano. Unten im Gefäß schwappte ein kleiner Rest ekelhafter Flüssigkeit.
"Darin können wir ihn bestimmt umbringen", kommentierte Terstion naserümpfend.
Ardano sah ihn missbilligend an. "Kapierst du es nicht? Das ist kein normales Tier. Niemals kann ein einziger Griefler so viel Schaden anrichten, einstecken und austeilen, oder auch nur so lange leben, ohne zu sterben. Aber vielleicht können wir ihn einsperren."
Terstion schüttelte es unwillkürlich und er erinnerte sich an seine eigenen Gedanken. Was war hier nur geschehen?
"Pass auf!", hallte Ardanos Ruf an sein Ohr. Amica kam ihm zuvor. Wie ein Pfeil schoss sie los. Sie traf direkt in den Bauch des schwarzen Grieflers, der zur Seite geschleudert wurde. Eine dunkelrote Fontäne schoss hinaus, versiegte aber unnatürlich schnell. Wieder fing sich der Schwarze in unheimlichem Geschick und flitzte kurz darauf schon in Terstions Richtung. Der Phabaner stellte sich breit auf und tat, als wolle er den Griefler aufhalten. Doch dieser raste unter seinen Schwingen hindurch und ließ ihn wie einen jämmerlichen Anfänger zurück. Ardano schrie auf und Terstion wirbelte herum. Der verdammte Griefler hatte sich mit dem Schnabel an Ardanos Gürtel verbissen. Amica und Terstion schossen gleichzeitig auf den Griefler zu, dessen Krallen schon tiefe Wunden in Ardanos Körper hinterließen, der Schmerz in seinem Gesicht ließ deutlich erahnen, dass er die Tonschale nicht länger halten würde. In völligem Einklang agierten Terstion und Amica. Sie riss den Griefler mit ihrem Schnabel und Gewicht von Ardanos Körper weg. Blinkende Münzen folgten den Beiden. Terstion griff mit der freien Hand das hintere Bein des schwarzen Grieflers und nutzte den Schwung. Nie würde er diesen perfekten Moment vergessen, in dem er das schwarze Wesen patschend in die Tonschale schleuderte. Diesmal konnte der Griefler sich nicht abfangen und badete in der ekelhaften Substanz.
"Jetzt!", rief Terstion und Ardano schob den Deckel auf die Schale. Anschließend bäumte er sich auf, stieß seinen Kopf schmerzhaft gegen die Decke und stellte seine Vorderhufe auf den Deckel. Diesem Gewicht konnte der schwarze Griefler nicht genug entgegen setzen. Er kratzte verzweifelt und knurrte tief und bedrohlich, dass der ganze Ton erbebte. Doch das Gefängnis hielt.
"Friss das!", jubelte Terstion kurz auf.
"Verdammt, ich blute!", stöhnte Ardano und hielt sich die Seite.
Terstion war sofort bei ihm, während Amica peinlich genau darauf achtete, dass der schwarze Griefler dem Tongefängnis nicht entkam.
"Das verdammte Vieh hat dir ne ordentliche Wunde verpasst. Halt still", befahl Terstion. Dann nahm er seinen Gladius und schnitt Teile seiner Toga auseinander, ballte sie und stopfte sie unter den Gürtel von Ardano. "Ich musste meine Heilkräuter zurück lassen, als du geflohen bist. Wir müssen etwas langsamer gehen, damit die Wunde sich etwas schließen kann. Du hast nicht zufällig Nadel und Faden, oder?"
"Klar, sowas verstecke ich immer in meinem linken Hufeisen", knurrte der Nämathier.
"Schön zu sehen, dass du noch scherzen kannst", entgegnete Terstion.
"Red keinen Mist. Such schwere Dinge, die wir hier drauf legen können", wies Ardano Terstion an.
Dieser fand einige Steine und die Bank von Ardano. Mit etwas Puzzelei gelang es ihm sogar, die Bank unter die Decke zu klemmen, sodass sie den Deckel sicher darauf hielt. Ardano stöhnte leicht, als er die unbequeme Position wieder verlassen konnte.
"Weiter, ich will nicht hier sein, wenn das Vieh es auch noch schafft da raus zu kommen. Zumindest sollten wir es ab jetzt lange vorher riechen können", merkte Ardano an und sie verließen die Wäscherei. Terstion konnte deutlich merken, dass Ardanos Wunde schmerzte.
"Es ist schon auffällig, dass der Griefler immer auf die Münzen los geht. Wo hattest du die überhaupt her?", fragte Terstion.
Ardano stöhnte erst noch einmal hingebungsvoll, vielleicht etwas länger als Nötig, ehe er antwortete: "Ich hab sie einem Piraten abgenommen bei der Flucht und ich nahm die Münzen des Toten in der Bäckerei", erklärte der Nämathier.
Terstion entgegnete: "Ich glaub kaum, dass du dich damit von deinem Herren freikaufen kannst und von mir auch nicht."
"Wohl kaum, aber auf der Flucht vor dir werde ich die Münzen sicherlich brauchen können", erklärte Ardano. "Ist jetzt eh egal, der Beutel ist aufgerissen und ich gehe bestimmt nicht nochmal in die Wäscherei. Sag was du willst, aber das Geld stinkt."
"Und das sogar in doppelter Hinsicht", pflichtete Terstion ihm bei. "Nicht nur vom Urin, es muss einen Grund geben, dass der Griefler es ständig darauf abgesehen hat."
Sie bogen um eine enge Kurve und gingen nun in entgegen gesetzter Richtung weiter hinauf. Noch immer säumten die Gebäude beidseitig ihren Weg und so langsam erkannte Terstion, dass der Aufbau eine Struktur mit perfekten Verteidigungsmöglichkeiten bot. Jeder Angreifer würde sich erst mühsam von unten nach oben kämpfen müssen und mit Sicherheit wären bei einem Angriff üble Überraschungen ausgelegt worden. Selbst Phabaner hätten von unten Probleme bekommen, da sie sich nicht in die Luft schwingen konnten. Von oben schien die Schlucht nur einen schmalen Spalt offen zu lassen und Terstion wettete innerlich darauf, dass es dort auch gut geschützte Verteidigungsanlagen gab. Andererseits gab genau das auch Anlass zur Hoffnung.
"Wenn ich es richtig sehe, müssen wir bis ganz oben, um den Horizont wieder zu sehen. Dort muss es mindestens einen Ausgang geben", erklärte er.
"Von mir aus. Kannst du meine Wunde behandeln? Wenn die noch lange blutet, sehe ich nur noch den Staub hier", Ardano blieb stehen und hielt sich die Seite.
Voller Unbehagen erkannte Terstion, dass die Wunde sich weiter geöffnet hatte. Sie hatten in ihrer Eile schon fast den ganzen Weg zurück geschafft und wenige Schritte weiter öffnete sich ein Torbogen in einem ausladenden, lichtdurchfluteten Raum.
"Komm da rein, da kann ich besser sehen," befahl Terstion und der Nämathier gehorchte, rappelte sich auf und folgte Terstion in den ausladenden Hof.
Das Tor war aufgebrochen worden und trug ebenfalls die Warnung in roter Schrift. Ansonsten war das große Atrium mit allerlei Steinen und Schutt gefüllt. Für die öffentlichen körperlichen Übungen war das große Rechteck in Städten mit feinem Sand gefüllt, doch hier war die Fläche nicht ganz so groß und es ließen sich einige Reste eines größeren Kampfes finden. Terstion erkannte, dass alles aus phabanischer Machart war. Ausgeblichene hölzerne Schäfte ragten empor, hier und da lagen rostzerfressene Klingenstücke und auch in diesem Teil waren präzise einige Reliefs abgeschlagen worden. Als Terstion mit einem Satz und einem kurzen Schwingenschlag auf eine abgebrochene Säule flog, begann diese bedrohlich zu schwanken und krachte kurz darauf laut berstend in den Innenhof. Terstion schwebte mit einigen lässigen Flügelschlägen wieder herab.
"Alles kaputt hier und brüchig ohne Ende. Ich könnte mit einiger Kraft vielleicht heraus kommen, aber du wirst die steilen Wände kaum erklettern können", mutmaßte er.
Die Antwort blieb aus, also drehte er sich um. Ardano stand im Eingang gelehnt und starrte zu Terstion. Seine Hände drückten auf die Wunde. Erst nach einer kurzen Zeit sagte der Nämathier: "Findest du hier irgendwas, gegen die Blutung? Ich glaub, es wird schlimmer, wenn wir nicht bald den Riss nähen."
"Ich muss mich umschauen, in Badehäusern gibt es manchmal hilfreiche Mittel. Amica, wache!", rief er seiner Grieflerfreundin zu. Diese kam sofort aus einem kleinen Haufen heraus geflitzt und stand mit aufgerichteten Ohren vor dem Eingang. Ardano riss einen angerosteten Speer aus einem Trümmerstück und klemmte es sich unter dem Arm. "Besser als nichts", erklärte er.
Das genügte Terstion vorerst und er machte sich auf, die Ruinen abzusuchen. In den kleineren Räumen seitlich des Trainingsgeländes fand er einige alte Schriftstücke und Teile von Schreibgeräten, aber nichts in einem Zustand, der Rückschlüsse zuließ. Also begab er sich an das hintere Ende. Hier hatten einige Felsen den Eingang in Mitleidenschaft gezogen, aber zugleich vor weiteren Witterungseinflüssen bewahrt. Er zog wieder seine Öllampe hervor und machte sich daran, das ehemalige Badehaus zu untersuchen. Die Becken waren zwar größtenteils ausgetrocknet, aber endlich waren hier einmal heile Mosaiken zu finden. Im heißen Bad erkannte er in den Mosaiken einige Griefler, die herum tollten. Darum herum flogen ein paar Phabaner.
In einem anderen Raum waren die Reliefs wiederum komplett zerschlagen. Das Salbungszimmer bot endlich zumindest etwas Nützliches. Ein paar der duftenden Tiegel mit denen die Phabaner ihre Schwingen nachfetteten und so vor Wasser schützten, war noch erhalten aber dazu fand er in einer gut verschlossenen Truhe auch einige Bandagen und ein paar Salben. Es war nicht ungewöhnlich auf so etwas zu stoßen, da gerade in kleinen Städten Reinigung und Heilung oft nah beieinander gebaut wurden. Erleichtert nahm er eine Nadel und Faden daraus mit. Trotz der Eile gab er seiner Neugier nach. Er schaute sich noch etwas weiter um. In der großen Halle mit den Seitenbädern glitzerten kleine, helle Löcher in der Decke. Teile der Deckenkonstruktion waren heruntergefallen. Er wischte mit dem Fuß ein paar der Brocken vom Mosaik des Bodens. Ein geflügelter Griefler kam zum Vorschein. Erst dachte er an einen Briefler, einem kleineren, geflügelten Vertreter der Griefler, doch dann erkannte er einen größeren Zusammenhang im Bild. Der Griefler stand auf einem Berg. Ein Schauder lief über Terstions Rücken. "Sÿndruiel", murmelte er und machte sich hastig auf den Rückweg.
Als er sich Ardano mit seinen Funden näherte, bemerkte dieser unbehaglich: "Ich habe ein lautes Geräusch aus der Stadt gehört. Klang fast, wie das Knacken brechenden Tons. Möglicherweise ist der schwarze Griefler wieder unterwegs."
Terstion nickte. Das machte die ganze Geschichte noch schwieriger. Er wischte mit der Tunika die Wunde grob ab und begann damit, Ardano zu verbinden, während er erzählte: "In der Therme habe ich ein Mosaik gefunden. Ich glaube, ich weiß zumindest, warum hier alles zerstört wurde."
Ardano horchte auf: "Lass hören!"
Terstion stach bei dem neugierigen Ausruf tiefer in die Haut als beabsichtigt und der Phabaner stöhnte kurz auf. "Bleib ruhig", begann Terstion, "ich kann den schwarzen Griefler noch nicht einordnen. Aber diese Stadt muss ein Rückzugsort für die Anhänger von Sÿndruiel gewesen sein. Ich habe das Abbild des Gebirgsgottes entdeckt."
Ardano schnaubte nur: "Das ist doch nicht ungewöhnlich."
"Sei still und hör endlich zu", zischte Terstion dazwischen, "es gab bei uns vor einigen Jahrzehnten einen Kult von Sÿndruiel. Er muss durchaus Einfluss gehabt haben, stand aber auch im Ruf, böse Mächte, Magie und blutige Rituale anzuwenden, genau weiß das keiner mehr. Als es einem früheren Phab zu Ohren kam, dass Sÿndruiel möglicherweise über ihn stehen könnte, beschloss er den gesamten Kult zu tilgen. Damit meine ich nicht, dass er einfach besiegt wurde. Die gesamte Erinnerung an ihn wurde systematisch ausgelöscht, Kultstätten vernichtet, Abbilder zerstört, Schriften verbrannt und jeder, der auch nur den Namen dieses Wesens sagte wurde exiliert und anschließend umgebracht. Es waren wirklich grausame Zeiten. Aber das Leben geht weiter, so starb der Phab und ein anderer trat an seine Stelle. Ruhe kehrte wieder ein, aber die Erinnerung wurde von Vater zu Kind weiter gegeben und niemand wagte es, den Kult jemals wieder zu beleben. Sÿndruiel blieb ein gemiedener Gott, wie all die anderen, die ihr so verehrt. Die ehemaligen Stätten gelten noch heute als verflucht und unglücksbringend."
Mit einem letzten Stich zog Terstion den Faden fest und begann die Wunde mit der heilenden Paste einzureiben, um dann die Bandagen darüber zu legen.
"Also bei solchen Herrschern wundert es mich nicht, dass eure Märchen nicht fröhlich enden", bemerkte Ardano.
Terstion wandte ein: "Du verstehst noch nicht, dass diese Märchen eine Warnung sein sollen. Sie enthalten sowas wie Verhaltensregeln für uns. Was man nicht direkt sagen darf, wird halt als Geschichte verpackt."
Ardano schnaubte: "Ja, widersprich dem Phab nicht und halte dich von Orten fern, die er nicht mag."
"Und lass die Schätze in Ruhe, die dort noch immer liegen, da sie möglicherweise verflucht sind, wie das Märchen sagt", führte Terstion weiter aus, "was in diesem Fall ein guter Rat ist. Wir sollten den Hort des schwarzen Grieflers meiden, so er denn einen hat. Lass uns gleich lieber weiter gehen. Hier gibt es noch keinen Weg nach draußen. Ich hoffe, dass wir weiter oben Glück haben."
Ardano grummelte nur unzufrieden. Es war mehr als offenkundig, dass ihm diese Geschichten missfielen. Terstion bemerkte es und kommentierte beißend: "Wenn wir es raus schaffen, kannst du ja deine heldenhafte Geschichte erzählen."
"Ich freue mich schon darauf, meinem ehemaligen Besitzer und danach dem Henker damit zu unterhalten", wandte Ardano mit einem ironisch fröhlichen Unterton ein. "Naja, dafür müsstest du mich anschließend natürlich überhaupt zu fassen bekommen, sobald wir wieder den Horizont sehen."
Terstion beendete seine Arbeit. "Wir sollten uns darauf konzentrieren, überhaupt raus zu kommen."
Damit zog er sich an Ardanos Rücken hoch und streckte sich kurz. Ardano nickte erleichtert. Der Nämathier fühlte sich nach der Behandlung der Wunde und der heilenden Salbe etwas besser. Rein vorsorglich packte er den Rest der Salbe und eine Bandage in seine Tasche.
"Ich fürchte, uns bleibt weiterhin nur der Weg nach oben", sagte Terstion und pfiff einmal leise. Sofort war Amica an seiner Seite und strich ihm ermutigend an seinen Beinen entlang. Ardano nahm den Speer und trottete vorsichtig hinter dem Phabaner her.
Der Weg vor ihnen stieg wieder an, doch zugleich geriet eine hohe Festungsmauer in ihr Sichtfeld. Enge Öffnungen in dem Mauerwerk verhießen jedem Angreifer einen unangenehmen aufstieg, doch kein Pfeil schoss heraus. Der Boden war übersäht mit Steinchen, Spitzen und Resten von Kriegswerkzeug. Wortlos und wachsam gingen sie an der eng bebauten Straße entlang. Keiner der drei verspürte auf Ausflüge in die offenen Häuserzeilen Lust. Immer wieder wanderten ihre Blicke nach oben, während ihre Schritte in der Gasse hallten.
Endlich änderte sich etwas. Der Weg verengte sich zu einer schmalen Treppe. Ideal zur Verteidigung gegen landgebundene Feinde, zugleich hatten Phabaner kaum genug Platz, um ohne Beschuss hoch fliegen zu können. Sie erklommen den engen Weg und Terstion musste seine Schwingen anlegen, um passieren zu können. Einen Rammbock hätte man nicht hindurch bekommen, zumal es einen plötzlichen Knick gab, den kein längerer Stamm mitgemacht hätte. Terstion stockte, als er um die Ecke sah. Er bedeutete auch Ardano anzuhalten. Sein Hals war trocken wie Staub und er atmete tief durch, ehe er sich einen Schritt nach vorn wagte. Die Treppe führte geradewegs auf ein prachtvolles Tor zu. Der Weg dahin war jedoch mit Leichen gepflastert.
Phabaner, Nämathier, Menschen, vielleicht sogar ein paar Zwerge. Die Art der Erschlagenen war vollkommen unterschiedlich. Einige große Schilde lagen verstreut, doch offensichtlich hatten die Schildwälle letztlich versagt. Speere, Schwerter, Rüstungsteile und Geschosse boten ein Bild der Verwüstung. Diese Leichen schienen älter, als der Tote im Gasthaus.
"Sie haben die Leichen der Soldaten nicht geborgen", kommentierte Terstion tonlos, "nicht mal die gefallenen Phabaner." In seine Stimme mischte sich eine Angst mit Wut und auch Trauer.
"Ein Schlachtfeld, wie es die Phabaner gern mal hinterlassen", antwortete Ardano weniger erschüttert.
"Schon, aber wir bergen die Gefallenen für ein anständiges Begräbnis, wer im Kampf fällt hat das verdient! Unbegrabene bringen Unglück", erwiderte Terstion.
Der Phabaner begann sehr vorsichtig über die Leichen zu klettern und keine zu berühren. Die meisten hatten schreckliche Wunden davon getragen, oft in Kehle oder Bauch, je nach Panzerung.
"Die Ehre endet, wo das Schlachten beginnt. Ihr habt so viele Schreckensgeschichten aber der Tod macht euch Angst", sagte Ardano und schüttelte seinen Kopf voll Unverständnis. "Ich weiß, was ihr anrichtet. Schließlich bin ich in einer richtigen Schlacht erst in Gefangenschaft geraten."
Terstion hüpfte, um drei übereinander liegenden Phabanerleichen auszuweichen. "Ich dachte, du bist kein Krieger."
"Wenn man angegriffen wird, ist es egal, ob man ein Krieger ist oder nicht. Man will nicht sterben und weiß, wer den Tod bringt. Ihr greift aus Gier an und denkt nie daran, wie es um die anderen steht." Ardano setzte sich frustriert in Bewegung. Seine Hufe drückten Schilde und Rüstungen platt. Knochenteile knackten hörbar, als er über die Verblichenen hinweg trat. Er achtete hauptsächlich darauf, den scharfen Spitzen auszuweichen und seine Wunde nicht zu belasten.
Endlich hatte Terstion das große Portal erreicht und sah missbilligend Ardanos Vorankommen. "Es bringt Unglück, die Toten zu berühren", sagte er.
"Ach, aber die Toten wollt ihr dann doch begraben, wie das ohne sie anzufassen? Ich denke, sie haben ihr Unglück bereits verbraucht. Schau lieber mal, was da über dem Eingang zu sehen ist", antwortete Ardano.
Terstion sah hinauf und trat einen Schritt zurück. Erst jetzt erkannte er den riesigen, stilisierten Greifen, der auf dem hohen Giebel des Portals thronte. Sÿndruiel! Er bekam eine Gänsehaut und ein eisiger Schauer durchzuckte ihn. Seine rechte Hand fand den Griff seines Gladius. Beruhigend schloss er die Hand um das kalte Eisen und zog es aus der Scheide. Das Gewicht gab ihm Sicherheit. Es tat gut, etwas Festes und Reales in der Hand zu halten. "Amica, bleib bei mir", murmelte er. Seine Grieflerin hatte keine Ausflüge unternommen, sich nichteinmal von ihm entfernt und jetzt schmiegte sie sich fast gänzlich an ihn mit tiefem bestätigenden knurren. Etwas beruhigt trat Terstion wieder vor das Portal. Es half ja doch nichts. Die großen und schweren Türen waren nur angelehnt und boten keinen Widerstand, als er seine Hand dagegen drückte. Licht fiel in den Eingang und er konnte zwei große Amphoren erkennen, die versiegelt dahinter standen. Ihm war sofort klar, dass sie Feueröl enthielten. Bestens für eine Verteidigung geeignet, aber unbenutzt.
"Wir kommen rein", sagte er zu Ardano gewandt, der jedoch nichts erwiderte. Er hatte sich gedreht und den Speer erhoben. Angespannt deutet die Spitze die Treppe hinunter.
"Er ist wieder da", sagte er nur und Terstion konnte die Nervosität in der Stimme deutlich hören.
"Komm hierher, aber langsam", sagte Terstion beruhigend und steckte seinen Gladius zurück. "Es wird Zeit für eine Bestattung."
Ardanos Hufe pochten und das Geräusch hallte durch die leere Stadt. Am Tor angekommen konnte Terstion deutlich den schwarzen Schatten zwischen den Leichen erkennen. Als sei der Griefler eine Ausgeburt des Massakers, schlich er zwischen den Leichen umher. Ein leichter Luftzug durch das nun geöffnete Tor trug ihnen den Gestank des Urins zu, in dem der Griefler gebadet hatte.
Terstion wuchtete die eine Amphore vor das Tor und stieß sie die Treppe herunter. Sie rollte nicht weit, ehe sie zerbrach und das Öl die Stufen herunter tropfte. "Amica, bleib bei mir", erinnerte Terstion sie, denn die Grieflerin hatte sich schon mit gesträubtem Nackenfell und tiefen Knurren vor gewagt. "Ardano, mach Feuer", befahl er dem Nämathier, der sich daraufhin noch etwas weiter zurück zog und begann, Terstions Öllampe zu entzünden. Der Phabaner nahm sich nun die andere Amphore vor. Diesmal schlug er jedoch zunächst ein kleines Loch mit dem Griff seines Gladius in den Deckel. Eine Spur des Feueröls breitete sich mit dem typischen Gestank aus, als die Zweite Amphore den Weg der ersten antrat.
Doch dem schwarzen Griefler war es nun offenbar genug. Er stieß sich ab und sprang auf Terstion zu. Als seine Krallen erneut aufsetzten, rutschte er ab und verlor viel seines Schwungs. Er knallte an die Stufen, richtete sich grollend wieder auf und rutschte erneut ab. Öl troff von seinem schwarzen Körper. Endlich hatte Ardano die Lampe entzündet. Der Griefler knurrte erbost, als Terstion die Lampe nahm. "Möge dies dein Ende sein!", rief er und hielt die Flamme an das Öl. Sofort begann sie sich auszubreiten. Das gelbe, rußige Feuer brannte heiß und voller Freude auf die dargebotene Nahrung. Der schwarze Griefler knurrte über das Zischen der Flammen hinweg. Zorn lag darin und doch schritt er nun betont langsam auf dem Öl voran. Die Flammen leckten an ihn und begannen das Öl zu verzehren und doch schritt das entflammte Monster langsam vorwärts. Terstion schluckte und Angst überkam ihn. Der schwarze Griefler war unaufhaltbar!
"Schließ das Tor", wies er Ardano an, der das schwere Holz zusammen schob.
"Es wird zwar etwas dauern, aber die Flammen werden sich durch fressen", meinte er, während er den schweren Balken davor legte.
Terstion steckte sein Schwert weg. Er seufzte und nahm die Öllampe auf. Der Schein beleuchtete das Bollwerk an Verteidigungsanlage. Eine ganze Armee hatte hier ihr Ende gefunden. "Vielleicht verbrennt er ja doch", überlegte Terstion und schaffte es nicht, seine Angst gänzlich zu verbergen. "Ich würde es ihm wünschen."
Schweigend hörten sie dem Fauchen der Flammen zu. Ein leises Kratzen am Tor ließ sie erschaudern.
"Hoffen wir, dass uns hier weniger Überraschungen bevor stehen. Mir wäre jetzt eine schöne kleine Treppe ganz recht, die aus diesem Ort führt", flüsterte Terstion mit trockenem Mund. Er hoffte, dass er damit seine Nervosität überspielte, denn ganz so sicher war er nicht, dass dieser Tempel überhaupt einen solchen Ausgang besaß. Ohne diesen gab es wohl nur den Wildwasserlauf.
Hinter dem engen Durchgang fanden sie eine überraschend große, runde Halle vor. Wunderschöne Reliefs waren selbst im knappen Schein der Öllampe und den kleinen Lichtschächten in der Decke gut auszumachen. Ein langes Band zog sich im Kreis um den Bau und erzählte von Alerick, der Sÿndruiel selbst getroffen haben soll. An der Stirnseite führte eine breite Treppe weiter hinauf und wie es bei Tempeln üblich war, würden dahinter die Kulträume sein. Links und rechts waren verschiedene Räume zu erkennen. Dort war vermutlich die Tempelverwaltung untergekommen. Die einst prächtige Farbe war nur noch abgeblättert erkennbar. Glücklicherweise fehlten auch die Stapel an Leichen, die Terstion insgeheim schon erwartet hatte. Einst mochte dieses Gebäude im Stein ein wahrhaft andächtiger Ort gewesen sein. Kein Wunder, dass der Phab neidisch geworden war. Ein solcher Tempel hätte jedem geschmeichelt. Terstion riss sich aus seinen Gedanken.
"Wir müssen weiter. Hoffentlich wurden uns keine weiteren Schrecken hinterlassen."
"Sÿndruiel", hauchte Ardano andächtig und machte in der Tat eine huldigende Geste.
"Lass das. Du hast doch gesehen, was seinen Anhängern hier widerfahren ist. Ich will nicht zu denen gehören", wies Terstion ihn zurecht. "Lass uns lieber hoffen, dass sie damals auch an einen zweiten Ausgang gedacht hatten."
Gemeinsam gingen sie weiter durch die Halle und Ardanos Hufschläge hallten gespenstisch wieder. Selbst die Treppe hatte kunstvoll eingearbeitete Reliefs auf dem Boden und der Seite. Endlich oben angekommen konnten sie einen ersten Blick auf die Halle des Heiligtums werfen. Trotz des knappen Lichts ließ sich die große, glänzende Statue von Sÿndruiel erkennen, die das Heiligtum überragte. Hinter dem Tor war keine einzige Spur von Zerstörung oder Plünderung zu sehen. Niemand hatte es bis hierher geschafft.
Amica folgte ihnen auf dem Fuße und kaum, dass ihre Pfoten die Schwelle des Heiligtums berührt hatten, begann ein Symbol auf dem Boden zu glühen.
"Weg!", rief Terstion und rollte sich nach vorne in den Raum. Amica sprang hinterher und auch Ardano machte einen erschrockenen Satz. Sie schlitterten noch kurz über den Marmor und rappelten sich dann schnell und gefasst auf, doch nichts geschah. Das Symbol glomm weiter und begann langsam, glühende Linien über den Boden auszusenden. Den Mustern auf Boden und Wänden folgend, breiteten sich die Linien im ganzen Raum aus und füllten die Darstellungen in den Reliefs. Immer wieder gab es dabei auch Knotenpunkte, in denen sich ein tagheller Fleck bildete. Bald strahlte das ganze Heiligtum in Licht und nun war auch die Statue von Sÿndruiel deutlich zu erkennen. Er war größtenteils aus hellem Marmor gefertigt, doch Schnabel und Augen, sowie Klauen und Schwingenspitzen waren kunstvoll mit Silber und Gold ergänzt. Wie eine Schutzgottheit wölbten sich seine Schwingen um einen Altar, während glühende Linien ihn wahrlich göttlich beleuchteten.
"Oh verdammt", brachte Terstion hervor, als er genauer hinsah. Der ganze Altar strotzte nur so vor eingetrocknetem Blut. Er näherte sich vorsichtig und Amica begann wieder tief und unwillig zu knurren. Der Phabaner erkannte klar, dass auf dem glimmenden Marmor der Kadaver eines Grieflers mit Flügeln lag. Längst war die Leiche eingefallen und teilweise mumifiziert. Er stockte, als er endlich nah genug war. Hinter dem Altar lagen die Überreste eines Phabaners ohne Schwingen. Dann wich er angeekelt zurück und keuchte auf.
"Was ist los?", fragte Ardano alarmiert, er hatte den alten Speer noch immer unsicher in der Hand und schien darauf zu warten, dass etwas geschah.
"Ein Exilierter liegt dort. Seine Schwingen wurden an den Griefler gesetzt", würgte Terstion hervor.
"Du meinst, sie wollten sich einen Greifen wie Sÿndruiel zusammennähen?", fragte Ardano ungläubig.
"Schlimmer! Es scheint ein Ritual gewesen zu sein, oder irgendwas anderes Abartiges. Die Schwingen wurden dem exilierten Phabaner abgenommen und sind an dem Griefler angewachsen. Sie wollten sich einen eigenen Gott basteln, oder etwas in der Art. Kein Wunder, dass sie so stark bekämpft wurden!" Terstion hatte eine Menge gesehen in seinem Leben und war einigermaßen abgehärtet. Trotzdem torkelte er jetzt. Amica war bei ihm und um jeden Schritt froh, der sie von dem Altar weg brachte.
"Achso, jetzt ergeben diese Bilder einen Sinn!", sinnierte Ardano, der begonnen hatte, die Reliefs zu betrachten. Terstion folgte seinem Blick, als Ardano erklärte: "Da vorne sind sie alle noch dabei Sÿndruiel zu preisen, das übliche Klimbim. Das Bild danach konnte ich erst nicht deuten, weil die Schwingen so zwischen Griefler und dem Oberphabaner sind. Das ist wahrscheinlich die Übertragung. Aber warum haben dann im letzten Bild beide, also Griefler und Phabaner, Schwingen? Und die des Phabaners leuchten so."
Terstion kraulte Amicas Nackenfell, als er einen Blick nach oben riskierte: "Unserem Glauben nach können wir nicht zum Gefolge der himmlischen Phab werden, sollten wir unsere Schwingen verlieren. Das heißt, wir werden ohne sie auf ewig verdammt. Es ist ein grausames Schicksal für unsereins."
Amica beruhigte sich etwas, als Terstion sie noch etwas mehr kraulte. Auch seine Anspannung ließ etwas nach.
"Es bringt nichts, hier zu warten. Schauen wir uns lieber um, irgendwo muss es hier doch einen Ausgang geben", sagte der Phabaner endlich.
"Ja und wir bleiben zusammen. Diese glühenden Zeichen sind mir nicht geheuer", erklärte Ardano und folgte Terstion vorsichtig, als dieser sich einem Durchgang in der Seite ansah.
Selbst hier zeigten sich die feinen, glühenden Linien. Terstion löschte seine Lampe, die noch immer gebrannt hatte. Es war überall hell genug. Dieser Raum war offensichtlich eine kleine Seitenkapelle, die dem Phab geweiht war. Seine Statue ragte unversehrt in heroischer Pose auf, der ganze Raum war leer aber völlig intakt, so als hätte man ihn eben erst verlassen. "Was macht ihr eigentlich, wenn der Phab mal stirbt?", wollte Ardano wissen.
"Dann gibt es einen neuen Phab und er wird ein lebender Gott sein, so wie seine Vorgänger, die ihn unterstützen. Das Gesicht der Statue ist aus Gold und kann durch ein neues ersetzt werden ", erklärte Terstion. "Lass uns gehen, hier ist nichts."
Der nächste Raum entpuppte sich als langer Gang, der viele kleine Schlafzellen beherbergte und im Gegensatz zum Rest des Tempels im Dunkeln lag. Terstion verlor schon nach den ersten beiden leeren Kammern das Interesse und sie machten sich auf in die nächste Kammer.
Dieser Raum war offenbar ein Lesezimmer gewesen. Die Rollen und Bücher stapelten sich in den alten Regalen, die völlig intakt waren. Die Linien bildeten hier vielerlei verschnörkelte Muster. Abgestanden hing die Luft herum und am Ende befand sich ein weiterer, kleiner Altar.
Amica knurrte erneut und ihre Nackenharre standen zu Berge. Ihr Schweif peitschte angriffslustig, während sie nahe bei Terstion in den Raum hinein schritt. Den Grund dafür erkannte der Phabaner schon nach wenigen Schritten. Eine weitere Leiche lag an die Ecke gelehnt dort. Diese war wie ein Priester gekleidet. Ardanos Hufe pochten, als er den Eingang vorsorglich mit seinem Speer bewachte. Eine Hand legte er sich angespannt auf seine bandagierte Wunde.Er schien sehr nervös zu sein. Auch sein Schweif schlug. "Etwas stimmt hier ganz und gar nicht", grummelte er voll Unbehagen, "ihr habt hier Abgründe geschaffen."
Terstion tat den Kommentar vorerst ab, viel mehr interessierte ihn, warum Amica bei dieser Phabanerleiche knurrte. Sie schien zwar außerordentlich gut erhalten, aber sonst ganz offensichtlich tot, das Loch in ihrem Bauch deutete auf den schwarzen Griefler hin. Gerade, als Terstion trotz seiner Bedenken den Phabaner durchsuchen wollte, zuckte dieser auf. Er stöhnte und hielt sich den Bauch, schwer atmend öffnete er die Augen und konnte offenbar nur sehr verschwommen Terstion erkennen.
"Verdammt!", hauchte der Priester, "ich verdammt."
Terstion glaubte seinen Ohren nicht zu trauen und Amica gab einen äußerst erregtes Knirschen mit ihrem Schnabel von sich. Nervös ruckte ihr Kopf herum. Der Phabaner packte die Schulter des Verletzten und richtete ihn vorsichtig auf, Blut quoll aus dessen Bauch. Seine beigen Schwingen mit den schwarzen Streifen zuckten. Er war alt, das war deutlich zu sehen und seine Kleidung wirkte wie aus dem vorletzten Jahrzehnt. Aber was das bedeuten sollte, wagte Terstion nicht zu glauben.
"Schwarze Griefler, Fehler!", würgte der Alte, "tötet mit Feuer. Feuerrune. Nur das. Er raubte. Er schützte. Er tötete. Er wachte. Immer!"
Terstion versuchte schlau aus diesen Worten zu werden. Wieder sprach der Alte: "Raum. "Seine Hand wischte durch die Luft. "Erhält Zustand. Lasst mich sterben. Endlich Ruhen. Ewig. Draußen", die letzten Worte verklangen zu einem Wispern. Er zuckte noch einmal und sein blutigen Hände rissen sich vom Loch in seinem Bauch: "Töte den Schwarzen Griefler!", schrie er Terstion an, dann weiteten sich seine Augen und er sackte zusammen. Terstion war sich nicht sicher, ob er auch ein "und mich", dahinter gewispert hatte.
"Ardano?", sagte er vorsichtig, während der Alte wieder zurück sackte und das Blut aus ihm heraus sickerte. Sein Atem stockte. Er sackte wie ein Toter zurück und doch war Terstion sicher, dass dieser Zustand hier keine Dauer hatte.
"Wir sollten verschwinden", antwortete der Nämathier voller Unbehagen.
"Ich hoffe, wir müssen keine Helden sein", würgte Terstion hervor. "Wir lassen ihn liegen, falls wir keinen Ausweg finden. Vielleicht beendet der schwarze Griefler sein Werk ja doch noch selbst."
"Das meinte ich damit", erklärte Ardano tonlos. Sein Speer deutete in den großen Raum. Unversehrt und vollkommen ruhig stolzierte der schwarze Griefler geradewegs auf das Zentrum zu. Viel zu leichtfüßig hallten seine tapsenden Schritte in dem großen Raum. In seinem Schnabel blinkte etwas Gold. Terstion und Amica starrte ebenfalls in den beleuchteten Raum. Im Glimmen der Linien schimmerte das Schwarz im Gefieder und Fell. Ein wundervoller Kontrast zu seinem Aussehen. Ohne die drei zu bemerken verschwand er in einem Raum gegenüber, aus dem es verräterisch blinkte. Nach einem kurzen Klimpern kehrte er zurück.
Amica knurrte wutentbrannt. Es wurde ihr zu viel. Die ständige Anspannung entlud sich in einen aggressiven Sprint. Wie ein brauner und sehr wütender Bolzen schoss sie Schnabel voran auf den verfluchten Artgenossen zu. Mit einem erstaunten Blick klappte dessen Schnabel kurz auf. Ausweichen war selbst ihm nicht mehr möglich und so bohrte sich Amicas Schnabel tief in den Bauch des Schwarzen. Ihre Krallen gruben sich in dessen Rückgrat und es knackte einmal laut. Der Schwarze wirbelte vom Schwung herum und Amica fegte von dem eigenen Anlauf getrieben ein paar Schritte weiter. Der Verfluchte hatte Mühe sich aufzurichten. Seine ganze hintere Hälfte schien nutzlos herunter zu hängen. Amica knurrte und schlich halb um ihn. Auch Terstion kam näher, denn eine bessere Gelegenheit würde sich kaum bieten. Doch dann knackte es erneut lautstark und der Schwarze richtete sich wieder auf. Zwar zog er noch immer Blut hinter sich her, doch trotzdem schien er alles andere als unbeweglich. Dem nächsten Angriff von Amica wich er geschickt aus. Terstion schnalzte laut und Amica blieb knurrend in seiner Nähe stehen. Der Phabaner zog sein Kurzschwert.
"Verdammt, das wird nichts bringen, wir brauchen eine Feuerglyphe", erklärte er Ardano. Der Nämathier scherte etwas aus und flankierte den Schwarzen mit seinem Speer, der wütend seinen Kopf zwischen den Dreien hin und her schwenkte. "Ich kann keine Glyphen lesen, du?", keuchte Ardano.
"Nein", grollte Terstion zähneknirschend.
Der Griefler hatte sich wohl entschieden und stürmte zunächst auf Ardano zu. Doch mit Geschick schaffte dieser es, die alte Speerstange zur Abwehr zu nutzen und den Schwarzen Griefler damit zur Seite zu schleudern. Ohne Umschweife fing das Untier sich ab und schnellte auf Terstion zu, der mit seinen ausgebreiteten Schwingen versuchte, möglichst imposant zu wirken. "Verdammt!", keuchte er als der Schwarze entgegen seiner Erwartung nicht sprang, sondern seinen Schnabel in Terstions Bein grub. Schmerz durchzuckte ihn und er hackte wild mit seinem Gladius auf den Nacken des Schwarzen. Dieser ließ von ihm ab, aber Terstions Bein strahlte erst dumpfes Pochen, dann heftigen Schmerz aus. Er konnte es kaum richtig aufsetzen.
Amica griff mit einem Knurren an und lenkte den Gegner zumindest ab, doch nicht lange, da hetzte er wieder Terstion zu. Dieser ging in die Knie, doch es lag ihm fern, sich zu ergeben. Er hielt sich tief und erwartete den Angriff. Gezielt setzte er seinen Gladius auf die Brust des Grieflers, doch es rutschte vom Brustkorb ab, lenkte aber auch den Angriff von seinem Körper weg und der Schwarze fegte seitlich an ihm vorbei, ohne echten Schaden zu hinterlassen.
"Ich kann den Horizont sehen", rief Ardano plötzlich und taghelles Licht fiel aus eine Öffnung in der Wand. "Viel Erfolg mit dem Monster. Bin einfach der Läufer."
Die Worte drangen durch Terstion und er drehte sich zu Ardano, konnte aber nur noch dessen Pferdehintern im Durchgang sehen, den er offenbar irgendwie hatte öffnen können.
Die Ablenkung rächte sich. Er spürte die tiefen Schnitte von Krallen in seinem Fleisch und den hackenden Schnabel in seiner Schulter Das Gewicht des Grieflers drückte ihn vorwärts. "Nein!", gurgelte er und fiel nach vorn. Er drückte sich vom Boden ab nach vorn und nutzte den Schwung. Mit dem Rücken voran warf er sich mit dem Griefler auf den Boden. Das sorgte immerhin dafür, dass der los ließ. Sie landeten nahe einer Wand und Terstion musste sich sammeln. Er erkannte ein völlig verkohltes Stück in der Wand. Seine Füße hingen in einem Haufen weicher Asche. Mühsam drehte er sich. Seine rechte Schwinge hing herab, wahrscheinlich verstaucht. Nasses Blut quoll aus seiner Schulter. Es gab noch mehr dieser schwarzen Stellen. Die hellen Linien hatten sie überstrahlt. Die Abstände schienen regelmäßig.
Eine Stelle war jedoch heller im Muster und er konnte auch keinen Aschehaufen darunter sehen. Er hatte keine andere Wahl. Amica hatte sich im Zweikampf auf den Schwarzen gestürzt, sie hatten sich ineinander verbissen und rangen wütend miteinander. Keiner von Beiden konnte die Oberhand gewinnen. Terstion schleppte sich zu der Stelle ohne Aschehaufen.
"Amica! Komm!", befahl er, als er vor der Glyphe stand. Er hatte nur diesen Versuch. Besser er fand schnell heraus, ob es klappte. Er hockte sich wieder tief. Amica versuchte sich loszureißen, doch der Schwarze setzte ihr weiter zu. Die Schnäbel hackten aufeinander und Amicas Fell war blutdurchtränkt. Der Schwarze hatte ihr offenbar doch einige heftige Wunden eingebracht. "Amica!", schrie Terstion noch einmal. Sie kam, doch der Schwarze setzte ihr sofort hinterher. Pure Mordlust war in seinen Augen zu sehen. Schwarze, geballte Wut, angestaut über eine viel zu lange Zeit. Amicas Hinterlauf knickte zwar immer wieder weg, doch sie schaffte es bis Terstion, ehe der Schwarze ganz aufgeschlossen hatte. Dieser wurde zu einem pfeilschnellen, tödlichen Schatten und fast war Terstion versucht, einfach auszuweichen und ihn gegen die Wand rennen zu lassen.
Im letzten Moment schoss sein Gladius vor und endlich spürte er, wie es sich in den Körper des Grieflers bohrte. Tief drang der Stahl in das Wesen. Die Kraft des Aufpralls lenkte Terstion nach oben und gegen die Wand hinter sich. Mit einem dumpfen Knacken prallte der Körper auf den Fels. Terstion stemmte sich vor und drückte den aufgespießten Griefler gegen die Wand. Dieser schlug mit seinen Krallen um sich, obleich er aufgespießt war und traf Terstion im Gesicht. Doch der Phabaner schrie nur. Jetzt ließ er seiner Wut freien Lauf und drückte den Schwarzen gegen den Stein. Obgleich sein Stand unsicher war, hielt er ihn. Aber es geschah einfach nichts.
Ein weiterer Schlag der Krallen riss eine Schlucht in seine Stirn und sofort wallte ein blutiger Strom bis auf seine Augen. Endlich merkte er etwas. Das Schwert wurde warm. Er wagte es, aufzuschauen und erkannte ein verästeltes Muster im Gestein. Tiefrot wie Lava ergoss es sich und begann sich in den Griefler zu fressen. Doch auch sein Gladius wurde immer heißer. Er wagte nicht loszulassen, selbst als die Hitze ihm noch heftiger ins Gesicht schlug, als die Grieflerkrallen zuvor. Muster breiteten sich über die Klinge aus und näherten sich Terstions Hand. Würde es noch klappen, wenn er los ließ?
"Verdammter Scheiß", keuchte er und presste seine Hände auf den glühenden Stahl. Er hörte das leise Zischen seines Fleisches. Die ersten Ausläufer des Musters tasteten auf seiner Haut und brannten wie flüssiges Feuer darauf. Er schrie schmerzerfüllt und hielt doch fest. Dann riss eine kräftige Hand ihn zurück.
Neben seinem Gladius hatte sich der Speer von Ardano in den Griefler gebort, der nur noch schwach zappelte und von Mustern übersät war. Alles in ihm löste sich langsam in Asche und fiel endgültig leblos zu Boden. Durch ein tiefes Loch in seinem Rumpf, konnten die beiden ein anderes, lila glimmendes Muster erkennen, das offenbar mit dem Roten rang. Teils überlagerten sie sich, teils zerschnitten sie sich. Mehr und mehr des Lila Musters wurde von der roten Glyphe zerfressen.
"Was für eine dreckige Magie!", keuchte Ardano. Er hielt den Speer noch immer am äußeren Ende. Die Muster hatten sich bereits halb hinauf gefressen, als auch die Reste des Schwarzen Grieflers verglühten und zu Asche zerfielen. Endlich ließ er den Speer los, der klappernd zu Boden fiel. Auch Terstion sackte in sich zusammen, als die Anspannung aus seinem Körper wich. "Ha!", keuchte er seinen Sieg hinaus und reckte eine Hand in die Luft. Erst ganz allmählich wurde er seiner mit Brandblasen übersäten Hände gewahr. Hände, Bein, Rücken, noch nie hatte er so viel auf einmal eingesteckt. Schuld daran war nur dieses Monstrum von einem Griefler und dieser verdammenswerte Kult gewesen.
"Lassen wir den idiotischen Priester, einfach weiter leiden", giftete Terstion und stützte sich auf den Boden.
Amica humpelte zu ihm und strich vertrauensvoll um seine Beine. Ihre zurückgekehrte Ruhe kochte auch Terstion herunter. Inmitten des hellen und freundlichen Lichts verschnauften sie einen Moment.
"Was machen wir mit dem Raum voller Bücher?", fragte Ardano dann.
Terstion setzte sich und wischte sich Blut aus dem Gesicht. "Ich würde den Kram in Ruhe lassen. Scheint mir nicht so, als kämen hier viele vorbei. Soll sich wer anders damit befassen." Dann holte er das Verbandszeug und die Salbe heraus. Seine Hände schmerzten bei jedem Gegenstand, den sie berührten. Er litt eindeutig. Trotzdem begann er erst Amica zu versorgen. Ein paar der Krallenrisse waren tief und Terstion verband sie, noch ehe er seine eigenen Wunden versorgte. Ardano sah ruhig zu.
"Ihr Phabaner seid echt unverwüstlich. Wie kommt es nur, dass ihr solche Wunden überlebt?", fragte er mit Blick auf die blutenden Schnitte auf Terstions Körper.
"Wir sind Phabaner, es wäre unehrenhaft so einfach zu sterben. Außerdem haben wir gute Heilmittel und sind Schmerzen durch unseren Dienst in der Armee gewohnt. Ihr Nämathier könnt aber auch gut einstecken", antwortete Terstion und beendete die Arbeit an Amica. Seine eigenen Wunden beschmierte er nur grob mit den Resten der Salbe. Er wollte aufstehen, musste dann aber doch pausieren. Ardano seufzte tief. "Auch wenn ich es bereuen werde", murmelte er. Dann nahm der Nämathier den restlichen Verband und versorgte Terstions schlimmste Wunden. Terstion ließ es geschehen.
Nach einigen ruhigen Minuten schaffte er es, sich aufzurichten. "Wird Zeit, den Untoten zu erlösen. Ich will nicht riskieren, dass irgendwer von ihm erfährt, wie man ein Monster erschafft."
"Da wird er sich bestimmt freuen", erklärte Ardano.
"Ohja, wir sind jetzt Helden", bestätigte Terstion, "fragt sich nur, wer uns glaubt. Ich werde jedenfalls nicht die Bücher nach Merphab bringen. Am Ende werde ich als Dank noch exiliert."
Sie betraten den Raum und zerrten den toten Körper des Phabaners mit sich. Dabei erwachte dieser mit schmerzgetränktem Stöhnen. Seine Bauchwunde spuckte Blut. "Der schwarze Griefler", begann er.
"Ist mit Feuer vernichtet", sagte Terstion.
Der Alte riss die Augen auf. Er sog die Luft schwer atmend ein und keuchte: "Danke! Endlich! Soll die Invasion kommen. Die roten Krallen, sind die letzten."
"Die Invasion ist lang vorbei", stellte Terstion fest. "Davon lebt niemand mehr."
Ardano warf jedoch ein: "Hatten die Piraten nicht ein solches Zeichen?"
"Achwas, es gibt hunderte solcher Symbole. Krallen sind alles andere als selten bei uns", antwortete Terstion.
"Goldene Kralle. Roter Grund. Gnadenlose Vollstrecker des Phab", ächzte der Alte. "Kamen mit Schiffen. Blieben. Kämpften. Brachten neue Kämpfer mit Schiffen."
"Das klingt aber schon verdammt nach den Piraten", meinte Ardano.
"Gut, das erklärt zumindest, warum der schwarzer Griefler sie heimgesucht hat. Erzählst du es ihnen?", fragte Terstion.
"Das kannst du vergessen, mit denen will ich nichts zu tun haben, verdammte Sklavenhändler." Ardano stampfte unzufrieden mit einem Huf auf.
Sie zogen den Alten weiter mit sich, der vor sich hin röchelte. Als er im Türrahmen fest hing, rappelte er sich ein letztes Mal auf. "Mein letzter Akt", stöhnte er. Trotz der Wunde stand er auf und schleppte seine völlig blutdurchtränkte Toga mit sich. "Ich wünsche mir Ruhe." Damit passierte er den Türrahmen zum Heiligtum und brach dort erneut leblos zusammen.
"Es ist gut, dass dieser Kult verboten wurde!", grummelte Terstion. Amica tappste neben ihm her und erreichte die Tür.
"Die Glyphen am besten auch", bestärkte Ardano, "und das Recht Sklaven zu besitzen. Oh, außerdem sollte euch jeglicher Krieg verboten werden und auch das Tragen von Waffen."
"Pah, dann könnten wir auch gleich vor allen anderen Völkern zu Kreuze kriechen und ihnen die Stiefel oder Hufe lecken", meinte Terstion und trat durch den nun offenen Durchgang nach draußen.
"Ich hätte nichts dagegen. Ein wahrer Held, wie du es jetzt bist, zeigt Reue und Demut", stichelte Ardano weiter und sein großer Pfedeleib zwängte sich durch die Tür.
"Ein wahrer Held watet durch Seen aus Blut. Nein Danke. Erzähl die Geschichte wem du willst, wenn wir zurück in Merphab bist", meinte Terstion.
"Nach all dem, was wir gemeinsam durchgemacht haben, willst du mich weiter jagen? Ich rettete dir zweimal das Leben", erinnerte Ardano ihn.
"Ich habe deine Wunde versorgt und der Steinschlag war deine Schuld, wir sind ausgeglichen", gab Terstion zurück.
"Und so dreht sich der Kreis weiter, wie es die Götter mögen. Ich bin gespannt, wann es ihnen gefällt, euch zu Fall zu bringen", überlegte Ardano.
"Da kannst du lange überlegen, auf lange Sicht kann uns niemand aufhalten," erklärte Terstion überzeugt.
"Der schwarze Griefler hat euch zugesetzt. Ihr schafft euch eure eigenen Dämonen. Aber von mir aus, ich habe große Lust, unsere kleine Geschichte an den Lagerfeuern meiner Heimat zu erzählen", meinte Ardano.
Terstion wollte gerade etwas erwidern, da spürte er, wie er herumgerissen wurde und unsanft auf dem Boden landete. Seine Verwundungen verlangsamten ihn und so entkam er Ardano nicht rechtzeitig. Sein großer Pferdeleib begrub den Phabaner unter sich. Terstion stöhnte, drückte, zerrte und fluchte, doch er konnte nichts ausrichten. "Du verdammter Fettarsch!", keifte er.
"Ruh dich aus", lächelte Ardano. Amica trottete neugierig zu den beiden. Sie war zwar angeschlagen, aber noch immer eine treue Begleiterin mit scharfem Schnabel.
"Du schuldest mir noch ein bisschen was für die lange Jagd. Außerdem hätte ich gern ein kleines Andenken an dich. Sonst glaubt mir wohl tatsächlich niemand meine Geschichte", meinte Ardano. Damit riss er Terstion seinen Gürtel ab und nahm ihn samt Scheide an sich. "Ist schon schade um das Schwert, du hast so gerne damit herum gefuchtelt. Aber was solls, ich bin mir sicher, dass du bald ein Neues hast."
"Ich war ja fast so weit, dich einfach laufen zu lassen, aber jetzt...", brauste Terstion auf.
"Ja, ich werde dich auch bis zu unserem nächsten Treffen vermissen. Du hast nicht zufällig eine gute Fluchtroute, oder?", fragte der Nämathier.
"Wehe du gibst dich als Freier aus und lässt dich von einem Händler in Udhägen übersetzen, die glauben einem für etwas Äre alles!", spie Terstion aus.
"Irgendwann wirst du mir sogar noch sympathisch", lächelte Ardano. Damit setzte er sich plötzlich auf und galloppierte los, einen steinernen Pfad entlang. Terstion setzte sich auf und hatte noch immer Pferdegeruch in der Nase. Er taumelte ein paar Schritte.
"Morgen! Ich kriege dich noch!", rief er wütend. Dann setzte er sich. Es war Abend. Der Horizont erstreckte sich zu allen Seiten.